Eine kleine „Vignette“, wie sie ein anderer Redaktor nannte: Sie fand keinen Weg in die Zeitungen, so bleibt ihr noch dieser Blog. Da fristet sie ein unbezahltes, wenn auch kein unbelohntes Dasein.
Es war in den Tagen des Jahreswechsels – eben einer Art Zeitenwende, die so allerlei Ungeahntes ermöglicht; rechnen wir da noch die Weihnachtstage hinein, die mit ihrer Festlichkeit für ein konstantes Niveau der Alkoholisierung sorgten (nicht einer Alkoholisierung der ohnmächtigen Besoffenheit, sondern der weihnälichtlich-jesuanischen Liebesoffenheit); und berücksichtigen wir, dass es nach chilenischem Wein und chinesischem Essen gegen Mitternacht zuging, als ein – wahrscheinlich tamilischer – Wirt im St. Gallerhof am Zürcher Hauptbahnhof noch ein grosses Glas Bier servierte: So haben wir die erforderliche Stimmung.
Nach Kindererziehungsgeschichten, Beziehungsanalysen und Heiratsanekdoten fiel das K-Wort doch noch. Wir beschworen unwillentlich jene doppeldeutige – auch rotgefärbte – Zwielichtigkeit des Langstrassenviertels herauf, war doch zu keinem Zeitpunkt klar, ob es nun um den Kommunismus oder den Kapitalismus ging. Übrig blieb die Marktwirtschaft. Und so beginnt’s.
Der Redaktor einer stadtbekannten Zeitung mit internationaler Ausstrahlung führte die These ins Feld, die Marktwirtschaft sei das erfolgreichste ökonomische System. Der sozialistische Exilant war aufgrund der Festtage versöhnlich gestimmt. Schliesslich hatte er seine Lehren aus der DDR-Planwirtschaft gezogen und überdies mit dem Redaktor zusammen Philosophie studiert. Am Ende des Gesprächs resultierte eine Frage, die allerdings aufgrund der vorgerückten Stunde – der Zug fuhr, zu Hause warteten Kinder und Beziehungen – keiner Klärung mehr zugeführt werden konnte. Aber zur Beantwortung dieser Preisfrage sind wahrscheinlich auch mehr als zwei Köpfe nötig: Wie lässt sich eine Marktwirtschaft ohne die Rechtsform des Privateigentums konzipieren?
Und bevor jetzt Tumulte ausbrechen, würde ich sagen: Die Philosophen haben ihre Aufgabe erledigt. Jetzt sind die St. Galler BWL- und VWL-Techniker dran. Das war am 30.12.2022. Ich schreibe das, weil ich weiss, dass die Zeit drängt, schliesst sich doch das Zeitfenster des Jahreswechsels mit seiner etwas verwegenen Stimmung der guten Vorsätze nur allzu schnell wieder, noch am 01.01. auf der Rückfahrt nach Leipzig am Strassenrand oberhalb des Schaffhauserplatzes auf. Das Autoradio plärrt «Bella Ciao» dazu. Auf in meine Wahlheimat Leipzig… von der Alfred-Escher zur Karl-Liebknecht… von der… von der… es fällt mir keine Frau ein… naja zur Rosa-Luxemburg-Strasse… Es grüsst der sozialistische Exilant mit Schweizer Pass aus dem real nicht existierenden Sozialismus.