Gedichte schreiben: Die visuelle Poesie der alten und neuen Gedichte

 

Dieser Text ist am 08. April 2023 unter dem Titel „Abschied der Lyrik vom Lied“ in der E-Paper-Beilage der FAZ erschienen. Leider hat mich die FAZ fälschlicherweise als Fabian Schmitter bezeichnet.

 

Eine seltsame Eigentümlichkeit hat sich in der deutschen Sprache erhalten, wenn von Gedichten die Rede ist: die Bezeichnung Lyrik. Weder die slawischen noch die romanischen Sprachen greifen auf die altgriechische Lyra – ein Saiteninstrument zur Begleitung von Gesängen oder metrischen Rezitationen – zurück, sondern verwenden meist das ebenfalls altgriechische Wort Poesie. Was wir – abgesehen von den englischen Lyrics bei Popsongs – heute mit Lyrik bezeichnen, ist in den allermeisten Fällen kein Lied, selbst wenn es aus alter Tradition heraus eines zu sein behauptet. Allenfalls singen Autor:innen in Ausnahmefällen an ihren Lesungen. Gedichte metrisch zu skandieren, kommt Autor:innen kaum mehr in den Sinn. Und wer nach der Lesung einen Gedichtband kauft, setzt sich zu Hause in einen Sessel, um lautlos zu lesen. Gedichte sind längst eine Frage guter Augen geworden und nicht feiner Ohren. Selbstredend hat das mit der Geschichte der Schrift zu tun.

Was wir wissen, überliefert die Schrift

 
Was wir heute an antiken und noch älteren Zeugnissen erinnern, sind Texte: geschriebene Worte, keine gesungenen Lieder, obwohl diese Worte ursprünglich gesungen oder wie Gedichte metrisch skandiert worden sein mögen. Lieder – im Gegensatz etwa zu den Gesängen der Australischen Aborigines – bewahren für uns längst kein Wissen mehr. Auf sumerischen Tontafeln aus dem heutigen Südirak ist das rund fünftausend Jahre alte Gilgamesch-Epos überliefert, das mit seinen Geschichten die Bibel beeinflusste.

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Marktwirtschaft: Zum neuen Jahr!

 

Eine kleine „Vignette“, wie sie ein anderer Redaktor nannte: Sie fand keinen Weg in die Zeitungen, so bleibt ihr noch dieser Blog. Da fristet sie ein unbezahltes, wenn auch kein unbelohntes Dasein.

 

Es war in den Tagen des Jahreswechsels – eben einer Art Zeitenwende, die so allerlei Ungeahntes ermöglicht; rechnen wir da noch die Weihnachtstage hinein, die mit ihrer Festlichkeit für ein konstantes Niveau der Alkoholisierung sorgten (nicht einer Alkoholisierung der ohnmächtigen Besoffenheit, sondern der weihnälichtlich-jesuanischen Liebesoffenheit); und berücksichtigen wir, dass es nach chilenischem Wein und chinesischem Essen gegen Mitternacht zuging, als ein – wahrscheinlich tamilischer – Wirt im St. Gallerhof am Zürcher Hauptbahnhof noch ein grosses Glas Bier servierte: So haben wir die erforderliche Stimmung.

Nach Kindererziehungsgeschichten, Beziehungsanalysen und Heiratsanekdoten fiel das K-Wort doch noch. Wir beschworen unwillentlich jene doppeldeutige – auch rotgefärbte – Zwielichtigkeit des Langstrassenviertels herauf, war doch zu keinem Zeitpunkt klar, ob es nun um den Kommunismus oder den Kapitalismus ging. Übrig blieb die Marktwirtschaft. Und so beginnt’s.

Der Redaktor einer stadtbekannten Zeitung mit internationaler Ausstrahlung führte die These ins Feld, die Marktwirtschaft sei das erfolgreichste ökonomische System. Der sozialistische Exilant war aufgrund der Festtage versöhnlich gestimmt. Schliesslich hatte er seine Lehren aus der DDR-Planwirtschaft gezogen und überdies mit dem Redaktor zusammen Philosophie studiert. Am Ende des Gesprächs resultierte eine Frage, die allerdings aufgrund der vorgerückten Stunde – der Zug fuhr, zu Hause warteten Kinder und Beziehungen – keiner Klärung mehr zugeführt werden konnte. Aber zur Beantwortung dieser Preisfrage sind wahrscheinlich auch mehr als zwei Köpfe nötig: Wie lässt sich eine Marktwirtschaft ohne die Rechtsform des Privateigentums konzipieren?

Und bevor jetzt Tumulte ausbrechen, würde ich sagen: Die Philosophen haben ihre Aufgabe erledigt. Jetzt sind die St. Galler BWL- und VWL-Techniker dran. Das war am 30.12.2022. Ich schreibe das, weil ich weiss, dass die Zeit drängt, schliesst sich doch das Zeitfenster des Jahreswechsels mit seiner etwas verwegenen Stimmung der guten Vorsätze nur allzu schnell wieder, noch am 01.01. auf der Rückfahrt nach Leipzig am Strassenrand oberhalb des Schaffhauserplatzes auf. Das Autoradio plärrt «Bella Ciao» dazu. Auf in meine Wahlheimat Leipzig… von der Alfred-Escher zur Karl-Liebknecht… von der… von der… es fällt mir keine Frau ein… naja zur Rosa-Luxemburg-Strasse… Es grüsst der sozialistische Exilant mit Schweizer Pass aus dem real nicht existierenden Sozialismus.

Und die Buchstaben?

 

Rede anlässlich eines Auftritts vor der Lesegegesellschaft Horgen mit der „Mikromärchen Soundscape“ am 20. Oktober 2022.

 

„Was, Sie können schon lesen? Nun denn…“
(Georg Büchner, Leonce und Lena)

 

Das sagt der Kronprinz Leonce in Georg Büchners Komödie Leonce und Lena zum Präsidenten des Staatsrats, als dieser einen Zettel aus der Tasche zieht, um die Ankunft von Leonces Braut zu verlesen, die Prinzessin von Pipi. Ich beginne etwas unvermittelt, nicht sehr förmlich. Und natürlich erlaube ich mir mit diesem Eingangszitat einen kleinen Scherz. Sie – die Lesegesellschaft und ihre Gäste – können bestimmt lesen, keine Frage. Allerdings ist das Lesen, im Gegensatz zum Plappern, keine Selbstverständlichkeit. Das jedenfalls bringen uns Kleinkinder bei.

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