Die Politik des freien Verses

 

Eine gekürzte Fassung unter dem Titel „Das Gedicht hat seine Fesseln abgelegt, nun irrt es ziellos umher“ hat die NZZ am 22. Mai 2021 publiziert.

 

Der freie Vers? Ein alter Hut. – Seine Wurzeln reichen bald drei Jahrhunderte zurück, etwa zu Klopstock. Und sein aufsehenerregender Durchbruch zu einem dominanten literarischen Phänomen Mitte des 20. Jahrhunderts ist auch schon mehr als ein halbes Jahrhundert her. Mittlerweile erscheint, was Gedicht sein will, meist im freien Vers. Manche atmen darob auf und sagen immer noch mit dem Pathos des Neuen: endlich kein Metrum, endlich kein Reim mehr. Das Gedicht ist an nichts mehr gebunden.

Seither fehlen neue Gedichtformen weitgehend. Und ich werde ein Unbehagen nicht los, das mit dem ästhetischen Prinzip des freien Verses zusammenhängt. Dieses will dem dichtenden Menschen und seinen Gegenständen im Einzelnen gerecht werden. Aber immer wieder beschleicht mich der Verdacht, der freie Vers könnte, obwohl er als Ausdrucksform dem Einzelnen gerecht werden möchte, im Ganzen ungerecht – und damit unfrei – sein.

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Da ist (immer) noch ein anderer Mensch

 

Dieser Text erschien am 29. Dezember 2019 in der NZZ. Leider befindet sich der Text bei der NZZ hinter der Paywall und ist entsprechend nicht frei zugänglich.

 

„Meine Frau hat sich in einen anderen verliebt.“

Lukas redet schnell und laut. Zwischen seine Sätze streut er erzwungene Lacher. Neben ihm sitzt seine Frau, Vera. Sie hat noch nichts gesagt, noch nichts sagen müssen.

Die beiden sitzen in einer Runde, beim monatlichen Polyamorie-Treff in Leipzig. Die Leute stellen sich reihum vor, oft verbunden mit einer Art Outing: „Ich bin seit so und so vielen Jahren poly.“

Lukas und Vera sind nach längerer Beziehung seit sechs Monaten verheiratet. Heute besuchen sie zum ersten Mal den Polyamorie-Treff. Und Lukas schildert ein alltägliches, aber deshalb um nichts weniger schmerzhaftes Drama.

Wovon reden wir?

 
Polyamorie: Das hört sich zunächst nach einem schicken Modewort an. Häufig wird der Begriff synonym mit ‚offene Beziehung‘ verwendet – und meint dann einfachen Sex und kürzere Affären ausserhalb einer klar definierten Kernbeziehung.

Allerdings kann Polyamorie mehr heissen, nämlich „verantwortungsvolle Nicht-Monogamie“, in der „alle involvierten Personen mit allen Bedingungen und Voraussetzungen einverstanden und sich aus eigenem Willen darauf einlassen“. So jedenfalls definieren Thomas Schroedter und Christina Vetter die Beziehungsform in ihrem theoretischen Überblick.

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Wir stehen am Gotthard im Stau. In die falsche Richtung

 

Dieser Text erschien in leicht veränderter Fassung am 15. Juni 2019 in der NZZ. Leider befindet er sich bei der NZZ hinter der Paywall und ist entsprechend nicht frei zugänglich.

 

Autofahren ist gefährlich, erfordert volle Aufmerksamkeit. – Ein Polizist hält uns bei Göschenen an. Der Gotthardpass sei wegen einer Lawine gesperrt. Wir: auf Säumerspuren im VW-Bus von Leipzig an die ligurische Küste zum Klettern. Der legendäre Gotthardpass – gesperrt. Also fragen wir den Polizisten – welches Industrieland leistet sich schon statt einer Ampel einen Gesetzeshüter als Dienstleister an einem Kreisverkehr? – nach Alternativen. Der Oberalppass? – Offen. – Der Lukmanier? – Offen. Der Polizist lässt uns passieren. Und wir malen uns eine Nacht an der Maggia aus. Pasta, eine Flasche Roten. Vor der Weiterfahrt ein paar Routen in Ponte Brolla.

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