Wir stehen am Gotthard im Stau. In die falsche Richtung

 

Dieser Text erschien in leicht veränderter Fassung am 15. Juni 2019 in der NZZ. Leider befindet er sich bei der NZZ hinter der Paywall und ist entsprechend nicht frei zugänglich.

 

Autofahren ist gefährlich, erfordert volle Aufmerksamkeit. – Ein Polizist hält uns bei Göschenen an. Der Gotthardpass sei wegen einer Lawine gesperrt. Wir: auf Säumerspuren im VW-Bus von Leipzig an die ligurische Küste zum Klettern. Der legendäre Gotthardpass – gesperrt. Also fragen wir den Polizisten – welches Industrieland leistet sich schon statt einer Ampel einen Gesetzeshüter als Dienstleister an einem Kreisverkehr? – nach Alternativen. Der Oberalppass? – Offen. – Der Lukmanier? – Offen. Der Polizist lässt uns passieren. Und wir malen uns eine Nacht an der Maggia aus. Pasta, eine Flasche Roten. Vor der Weiterfahrt ein paar Routen in Ponte Brolla.

Bei der Teufelsbrücke bewundern wir die mittelalterliche Ingenieurskunst. Auf dem Oberalppass greifen wir in den meterhohen Schnee. Im Bleniotal spüren wir erstmals den Süden. Die Hänge sind beinahe schneefrei. Nackt die Felsen über dem Tal, ein Bach windet sich auf das Lieblichste durch eine Hochebene. Wir halten die Füsse ins eiskalte Wasser, lassen Steine springen, üben uns in Landart. Wieder beim Auto finden wir einen Zettel auf der Windschutzscheibe. Wir möchten doch das Auto auf einem der vorgesehenen Parkplätze und nicht einfach am Strassenrand abstellen. Keine Busse, nur diese freundliche Bitte. Wir sind gerührt und staunen. Zwanzig Minuten waren wir weg. Wie der Polizist am Kreisverkehr sorgt hier jemand freundlich für Ordnung. Wir essen noch einen Apfel und ziehen dann unseres Wegs. Steil fällt das Tal jetzt ab. Könnten wir hier leben? Wir steigen nicht aus, weiter hinunter Richtung Biasca – Bellinzona – Locarno – uns ziehts ans Meer.

Ab Biasca nehmen wir die Autobahn – meine Gedanken hängen irgendwo zwischen Blenio und Finale Ligure. Spektakuläre Landschaften, erstklassiger Kletterfels. Kreisverkehr, Schilder, blaue Hauptstrasse. – Felswände, Meer. – Grüne Autobahn. – Kristallklares Wasser. – Weiss? – Gelati. – Einfahrten, Ausfahrten. – Bellinzona. – Ja. – – – Nein!

Gotthard. Falsche Einfahrt. Zurücksetzen? Naja, bis zur nächsten Ausfahrt, wenden. – Gut. –Faido. 20 Kilometer. Aufs Gas. Dann plötzlich nichts mehr. Schritttempo, Stillstand. Erste Anzeichen von Entnervung. Wir stehen im Stau, in der falschen Richtung. Pfingstmontag: Rückreiseverkehr. Verdammt. Und dann rollen wir vor lauter Ärger an der Einfahrt zum Autobahnparkplatz Lavorgo vorbei. Halt durch die Ausfahrt hinein, über Rasenflächen. Endlich: Wir stehen – fein säuberlich geparkt. Aussteigen – uns unserer Situation noch einmal richtig bewusst werden. Wir stehen im Stau – in der falschen Richtung. Autofahren ist gefährlich, erfordert volle Aufmerksamkeit.

Galgenhumor und Zweckoptimismus machen sich breit und wir richten uns ein. Jede Automobilistin muss einmal einen Gotthardstau erlebt haben. Ganz klar. Den Menschen beim Staumachen zukucken. Campingstühle, Schach: Warten. Ausbruchsmöglichkeiten? Alle Tore zum Parkplatz verschlossen. Wir freunden uns mit zwei Belgierinnen an. – Von drei Spuren im Tunnel sind zwei gesperrt: weil Autofahren gefährlich ist – Wir tauschen Henna gegen Wein. Der Abend nimmt Fahrt auf. Nudeln, Tomatensauce. Lauwarmer Rosé. Zwei Polen bitten uns, für sie Tee zu kochen. Ihrer Kinder wegen. Zehn Euro verlangen? Nichts da: Wir helfen. All die Gestrandeten: Die ganze Erholung des Urlaubs dahin – am nächsten Tag zur Arbeit, genauso gestresst wie vor dem Urlaub. Überquellende Mülleimer, Stau vor den Toiletten. In der Schweiz beschränkt sich das Chaos auf Autobahnparkplätze. Wir öffnen noch eine Flasche, legen uns irgendwann in den Bus. Wir schlafen miteinander, fallen endlich in ein Erschöpfungskoma. – Am nächsten Tag, ein Arbeiter räumt schon auf, ist der Parkplatz leer, die Autobahn auch. Und wir fahren südwärts.

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