Auf der Suche nach einem egalitären Geschlechterverhältnis

 

Dieser Text ist in stark gekürzter und veränderter Fassung am 29.04.2023 unter dem Titel „Männer und andere Zumutungen“ im Magazin des Tages-Anzeigers erschienen.

 

Auf der Suche nach einem egalitären Geschlechterverhältnis

Das heterosexuelle Rollenspiel nach #MeToo aus der Sicht eines Manns

 

Und am Ende kann der eine,
nur mit dem andern untergehn.
(Element of Crime)

 

Das warme Gelb der Strassenlaternen mischte sich mit der nächtlichen Schwärze zu einem diffusen Zwielicht, als ich – ein Philosophiestudent Mitte zwanzig – lange nach Mitternacht in behaglicher Selbstgefälligkeit einer meiner engsten Freundinnen, D., und deren Freundin A. erklärte, dass weibliche Selbstsicherheit doch wohl am besten vor männlichen Übergriffen schützen würde. Den linken Fuss auf eine Bank gestellt, den Ellbogen auf das Knie gestützt, dozierte ich leicht vornübergebeugt – Bierdose in der einen, Döner in der anderen Hand – über die Macht der Standhaftigkeit angesichts einer Bedrohung. Im Hintergrund warf die grelle Leuchtreklame des Imbisses Ararart beim Lochergut in Zürich ihr künstliches Licht achtlos auf die Strasse.

Opfer und Täter

 
Diese Situation entbehrt im Nachhinein nicht der Ironie: Wie entlarvend hätte sie – mit der nötigen Aufmerksamkeit betrachtet – sein können. Natürlich hätte ich bemerken können, wie ermüdend es sein muss, sich Tag für Tag – und dann auch noch und gerade mitten in der Nacht – gegenüber solchem Verhalten zu behaupten. D. und A. weigerten sich jedenfalls, meinen Argumenten zuzustimmen. Natürlich hätte ich merken können, dass der unheimliche Typ im nächtlichen Stadtpark zwar vorkommt, aber wahrscheinlich nur die prägnante Spitze eines alltäglichen Eisbergs der Übergriffigkeit darstellt, zu dem auch ich beitrage. Mein Insistieren führte dazu, dass wir uns im Gespräch an dieser seltenen Situation aufrieben. Natürlich hätte ich merken können, wie unnötig das alles war. Stattdessen stand ich da, in angriffslustiger Pose – halb bobenständig, halb abgehoben – und erklärte im lupenreinsten mansplaining, wie sich Frauen übergriffige Männer vom Leib halten.

Als müsste das genau so sein, erinnerte ich mich im Zwielicht vor dem Ararat selbstverständlich nicht an meine demütigenden Jahre in den Clubs – an die hormongeschwängerte Luft, die Menschen in den diffusen Rauchschwaden, die Unbeholfenheit eines Pubertierenden um die Zwanzig, der magisch angezogen von weiblichen Körpern sich in seiner Lust nicht zu helfen weiss. Allerdings weiss ich nur zu gut, dass ich da und dort einer Frau – wie beiläufig – über den Po gefahren war in der Hoffnung, das würde irgendwas bewirken. Ob weibliche Selbstsicherheit das verhindert hätte? Ich war wie viele andere auch der Unsitte verfallen, Frauen von hinten anzutanzen. Noch gehört das an vielen Orten zum üblichen Balzverhalten. Noch sind das die Regeln des heterosexuellen Spiels. Mit weiblicher Selbstsicherheit hat das zunächst nicht viel zu tun. Und wie war das zum Beispiel gewesen, als ich die Überlegenheit eines Altersunterschieds ausgenutzt hatte? Oder als ich mich – die Folgen waren drastisch – für eine Nacht mit einer Frau ins Bett gelegt hatte, um deren psychische Instabilität ich gewusst hatte? Ein explizites Einverständnis nach Schwedischem Vorbild war dabei sicherlich ausgeblieben.

Warum kam mir all das vor dem Ararat nicht in den Sinn? Warum glaubte ich stattdessen, meine selbstgefällige Weisheit sei mehr wert als die Erfahrungen von D. und A., die im Wesentlichen beide dieselbe Geschichte erzählten? Warum fiel es mir nicht ein, genauer nachzufragen, um ein vollständigeres Bild der Lage zu erhalten?

Diese Fragen zu stellen, geschweige denn Antworten auf sie zu finden, kam mir erst Jahre später in den Sinn. Mitte dreissig muss ich mit Zerknirschung feststellen, dass mich #MeToo an den Punkt gebracht hat, an dem ich mich an den Schreibtisch setze und angetrieben von eigenen, aber ganz anderen schmerzhaften Erfahrungen einen Essay über mein – männliches – Sexualleben mit den Worten beginne: Von Haus aus bin ich ein Täter. In eine Welt, die mir diese Rolle zudenkt, wurde ich – ein weisser, heterosexueller cis-Mann – hineingeboren. In der öffentlichen Debatte um die Übergriffigkeit einer toxischen Männlichkeit und um die Deutungshoheit über adäquates Sexualverhalten, die sich seit einiger Zeit immer wieder entlang einer Opfer-Täter-Dichotomie bewegt, gehöre ich auf die Seite der Täter.

Aber ich bin doch nicht… Halt. Ich will mir nicht bei der erstbesten Gelegenheit ins Wort fallen, um Rechtfertigungen und Erklärungen zu liefern, als könnte ich ob all meiner Redegewandtheit nicht einmal mir selbst zuhören. Ich bleibe also erst einmal bei dieser Feststellung. Warum also wollte ich lieber erklären als zuhören? Wahrscheinlich hatte mein Zustand vor dem Ararat viel damit zu tun, die Früchte meiner Anstrengungen ernten und mich in einer Position der Stärke erleben zu wollen.

Zum Täter statt zum Opfer werden

 
Ich hatte mich – wie von einem Mann verlangt – durchgesetzt. Daran erinnere ich mich heute. Und ich erinnere mich auch daran, dass mir das die meiste Zeit nicht sonderlich angenehm gewesen war. Feinfühlig und introvertiert hatte ich meine Jugend verbracht, war als Kind auf dem Pausenhof häufig verprügelt worden und dennoch wie viele andere Jungs im Dorf beim Handballverein gelandet. Meine Angst vor schmerzhaftem Körperkontakt hatte ich ebenso zu überwinden gelernt, wie die Hierarchierituale in Männermannschaften auszuhalten. War es nicht so gewesen, dass den jüngsten Spielern ihre Unerfahrenheit auf das Peinlichste zu spüren gegeben worden war? Sie hatten an den Spielen gerademal dazu getaugt, den älteren Spielern die Wasserflaschen hinterherzutragen. Was für ein soziales Klima herrscht, wenn ein Coach seinen dreijährigen Sohn, der hingefallen ist und weint, fragt, ob er ein Röckchen brauche? Niemand hatte das der Rede wert gefunden. Und ja, auch das prahlerische Ausbreiten von sexuellen Eskapaden in der Garderobe, um die Mitspieler zu beeindrucken, hatte dazugehört. Jia Tolentino schrieb im New Yorker über #MeToo treffend: Übergriffe sind etwas, was Männer für andere Männer tun. Aber davon wusste ich nichts, als ich 2004 mit der Schweizer U21 Nationalmannschaft an der Europameisterschaft in Riga war und – wie andere Nationalspieler es taten – nachts im Club einer Frau gerne meine Hand in die Hose geschoben hätte. Ob ich nun aber zwei Jahrzehnte später mit Stolz sagen soll: Körperlichen Schmerz habe ich zu ignorieren gelernt…?

Fragen hatte ich keine gestellt. Auch später während des Studiums nicht. Ich hatte im Gefühl gelebt, alles wissen zu müssen. Etwas womöglich Banales nicht zu wissen, hätte peinlich sein können. Ich hatte mich vor Blossstellung gefürchtet. Also hatte ich mitgemacht, meine argumentativen Werkzeuge geschliffen und es vermieden, Fragen zu stellen. Ich hatte mich im Hintergrund gehalten, wenn ich unsicher und wenn ich sicher gewesen war, umso mehr aufgetrumpft. Noch heute überfällt mich immer wieder ein Gefühl, es der Welt schon noch zeigen zu wollen… Was für ein herrliches Mäntelchen der Selbstsicherheit, dessen Fadenscheinigkeit gerade im Umgang mit Frauen meine nackte Unbeholfenheit nur notdürftig bedeckt hatte. Dabei wäre mir doch die ganze Zeit zwischen 15 und 25 (und, ich will nichts verhehlen, auch heute noch) nichts lieber gewesen, als in weibliche Arme zu sinken, sexuell und emotional bedürftig wie ich gewesen war. Stattdessen also nächtliche Streifzüge durch die Clubs, mit Händen, die… die… die eben die Pos von Frauen gestreift hatten, als verschwände diese Geste irgendwo im Zwielicht zwischen Unbewusstem und insgeheim Erwünschtem, nur um aus dem Verborgenen heraus Wunderwas zu bewirken. Ob das so sein muss?

Erleichtert bin ich heute, dass ich mir in all den Jahren wahrscheinlich kein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten habe zuschulden kommen lassen. Erleichtert bin ich, nach #MeToo nicht in der Position eines Harvey Weinstein zu sein: weder als skrupelloser Machtmensch der Versuchung zu erliegen, andere – und insbesondere Frauen – zerstörerisch zu dominieren, noch auf der Anklagebank zu sitzen. Allerdings will ich juristische Kriterien auch nicht als Massstab für Integrität gelten lassen. Solche Gerichtsprozesse mit ihren Urteilen verführen zu vorschnellen Flurbereinigungen und verleiten zu einer wieder- und wiederkehrenden Selbsttäuschung über die Zustände. Eine Selbsttäuschung, deren Kern damals vor dem Ararat nicht zum Ausdruck gekommen war: Von mir geht doch keine – nennenswerte – Gewalt aus, also ist die Stärkung der Frauen angesichts struktureller sexualisierter Gewalt einleuchtend. Das Bequeme an dieser Einschätzung: Ich brauche meine eigene Rolle nicht zu überdenken. Noch heute gehört es zu den gängigen Verhaltensweisen, dass (männliche) Menschen, anstatt die eigenen Schwächen zu benennen, mit beissendem Spott oder chauvinistischer Herablassung die Unzulänglichkeiten anderer an den Pranger stellen. Etwa wenn es um eine überzogene Identitätspolitik oder die sogenannte cancel culture geht, die den Menschen, indem sie moralisch unkorrekte Worte aus der Sprache verbannt, scheinbar den Mund verbietet. Gerade alte, weisse, heterosexuelle cis-Männer – in jüngster Zeit der Inbegriff aller Übel dieser Welt – sehen sich davon besonders herausgefordert, geht es dabei doch um ihre angestammte Deutungshoheit des Weltgeschehens.

Auch mir – und ich werde dereinst nicht nur ein weisser, heterosexueller cis-Mann, sondern auch alt sein – kommen manche Reaktionen auf sexualisierte Gewalt oder Diskriminierung überzogen vor. Auch ich verzweifle manchmal ob identitätspolitischer Spitzfindigkeiten und politisch korrekter Sprache. Aber es hilft, erst einmal zuzuhören. Es hilft, Fragen zu stellen anstatt sofort Gegenargumente anzuführen. Und es hilft, zu wissen, was ein heterosexueller cis-Mann ist: ein Mann, der als Mann geboren wurde und ein Begehren für Frauen hat. Und es obliegt jedem einzelnen Menschen dabei als erstes zu denken, dass die meisten Männer so sind, oder zu denken, dass es ja auch andere Menschen gibt. Und wer diese anderen Möglichkeiten übersieht, ist vielleicht gefährlich nahe an toxischer Männlichkeit, die mit Härte alles niederwalzt, was sich ihren uneingestandenen Schwächen in den Weg stellt. Oder was mansplaining bedeutet: das häufige Verhalten von Männern, ungebeten Erklärungen zu liefern und Ratschläge zu erteilen. Oder victim blaming: die gängige Praxis, angesichts männlicher Übergriffigkeit erst einmal über das Verhalten der Frau zu sprechen. Solche Begriffe zu kennen, schärft die Aufmerksamkeit. Statt Selbsttäuschungen auf den Leim zu gehen, will ich #MeToo lieber zum Anlass nehmen, über die Verhältnisse nachzudenken. Viel zu sehr, das begreife ich mittlerweile und anerkenne es umstandslos, durchdringt die sogenannte rape culture – eine patriarchale Kultur männlicher Verfügungsgewalt über weibliche Sexualität – alle Schichten der Gesellschaft. Viel zu nötig sind weibliche Aufmerksamkeit und Solidarität, um nach Protestwellen wie #MeToo umstandslos zur Tagesordnung überzugehen. Ich bin froh, dass die Angst vor mir selbst und vor dem Spiegel, den Frauen mit #MeToo mir vorhalten, mich nicht gelähmt hat. Ich bin froh, dass meine Verunsicherung mir Räume zur Selbstreflexion geöffnet hat. Ich bin froh, dass ich nicht dem Gegenteil – einer Rückbesinnung auf überholte Rollenmuster – verfallen bin und ich nach wie vor an der Hoffnung auf ein egalitäres Geschlechterverhältnis festhalte.

Die Täter und die rape culture

 
In unserer Auseinandersetzung über #MeToo machte mich D. – und ich bin dankbar, dass sie mir als Freundin all die Jahre die Stange gehalten und nie locker gelassen hat – auf einen bemerkenswerten Umstand aufmerksam. Noch nie, so referierte sie einen Gedanken der italienischen Feministin Lia Cigarini, hätten Frauen ihre Geschichten von männlicher Übergriffigkeit in solchem Ausmass geteilt und sich auch gegenseitig trotz unterschiedlicher Erfahrungen geglaubt. Dass es überhaupt zu spektakulären Prozessen gekommen sei, habe damit zu tun, dass #MeToo nicht in erster Linie eine juristische Aufarbeitung gesucht, sondern einen Moment von weiblicher Autorität zur Deutung der Welt hervorgebracht habe. Diese Autorität ist, so will es mir vorkommen, eine Art sozialer Kontrolle. Und ich begreife, wie bitter nötig diese soziale Kontrolle ist angesichts von Menschen, vor allem Männer, die im Rausch ihrer Macht jeden Sinn für Zurückhaltung verlieren.

Harvey Weinstein war längst nicht der einzige. Sein Fall brachte #MeToo lediglich ins Rollen. Schliesslich geht #MeToo auf die Aktivistin Tarana Burke zurück, die schon 2006 mit MeToo auf der social media Plattform myspace um Solidarität unter afroamerikanischen Frauen bemüht war, die von sexualisierter Gewalt betroffen waren. Aber erst im Herbst 2017 erzeugte die Schauspielerin Alyssa Milano die nötige Aufmerksamkeit, sodass #MeToo um die Welt ging. Und irgendwie erschienen viele vermeintliche Kavaliersdelikte – etwa Donald Trumps Pussy-Tape oder Silvio Berlusconis Orgien – danach in einem ganz anderen Licht. Das waren keine vernachlässigbaren Eskapaden von extravaganten Politikern. Dieses schlechte Vorbild hatte und hat System. Was über Jahrzehnte – von der Politik über die Wirtschaft und das Entertainment bis zur Kirche – durch männerbündlerische Verschwiegenheit und die juristische Heuchelei von teuer erkauften Schweigevereinbarungen unter den Teppich gekehrt oder bagatellisiert worden war, kam durch #MeToo ans Licht einer breiten Öffentlichkeit. Und ich erinnere mich wieder an das nächtliche Zwielicht vor dem Ararat. Heute, das hoffe ich inständig, würde ich männliche Übergriffe gegenüber Frauen nicht mehr kleinreden oder hart an der Grenze des victim blaming Erläuterungen über Selbstsicherheit feilbieten.

Dass Frauen in so grosser Zahl gesprochen hatten, war für mich ein Weckruf. Dass Männer umgekehrt – weder untereinander noch mit Frauen – wenig reden, stimmt mich nachdenklich. Ich habe jedenfalls selten – und vor allem in der Jugend nicht – mit Männern über ihre oder meine sexuellen Sorgen gesprochen. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass ein älterer Mann mir von den Herausfordernungen einer Sexualität in Langzeitbeziehungen erzählt hätte. Und mit meinen Partnerinnen zu sprechen, fiel mir lange Zeit schwer. Dass ich nach einer Trennung im Kleinen für mich meine Lehren ziehen konnte, stimmt mich zuversichtlich. Dass ich in der Öffentlickeit nach wie vor kaum männliche Stimmen höre, die jenseits reaktionärer Versuchungen und therapeutischer Angebote auf der Suche nach Solidarität das heterosexuelle Rollenverhältnis auch im Hinblick auf Sexualität thematisieren, macht mich stutzig. Fehlt da auf dem Weg zu einem egalitären Geschlechterverhältnis nicht ein Teil der Geschichte? Die Möglichkeit beispielsweise gerade für junge Täter, sich durch Einsicht zu rehabilitieren und zur Versöhnung beizutragen, anstatt den Zyklus von Verbrechen und Strafe, Tat und Beschämung weiter und weiter zu treiben? Die Anerkennung männlicher Bedürftigkeit und Bedürfnisse jenseits von Übergriffsgeschichten und stereotypen Mackerfiguren? Selten lese ich – von Männern – über solche Fragen.

Ich will – aber das habe ich bereits beteuert – nichts kleinreden. Vergewaltigungen, unter welchen Umständen sie auch geschehen, sind schändliche Verbrechen. Ich habe – im Gegensatz zu vielen Frauen – von keinen Vergewaltigungen zu berichten: weder als Opfer, noch als Täter. Ich bin froh darum. Und doch spricht mir die Kulturwissenschaftlerin Mithu M. Sanyal aus der Seele, wenn sie die Vergewaltigung als «das gegenderteste Verbrechen» bezeichnet: «Nach wie vor gehört die Warnung vor Vergewaltigung zu den Initiationen in die Geschlechterverhältnisse. Zuweilen noch vor jeglicher Form von sexueller Aufklärung erfahren Mädchen, dass sie aufpassen müssen – in der Regel ohne nähere Informationen, wie das geschehen soll. Jungen wachsen mit ebenso verwirrenden Botschaften auf, so sollten sie auf Mädchen besondere Rücksicht nehmen und vorsichtig mit ihnen umgehen, gleichzeitig gelten aber genau diese Eigenschaften als unmännlich.» Wie sehr ich doch von dieser Erzählung geprägt war… Selbst wenn ich damals im Club mit meinen unbeholfenen Händen hin und wieder eine Frau für einen One-Night-Stand abzuschleppen vermocht hatte, so hatten mich am Tag danach ungeheure Gewissensbisse geplagt. Meine jugendliche Psyche – zerrissen zwischen sexueller Begierde und übersteigerten Liebesvorstellungen – hatte diese Intimität gar nicht verkraftet, obwohl ich nichts mehr begehrt hatte als Frauenkörper. Hätte also nicht vielmehr ich der Zerbrechliche sein müssen? Und gar nicht unbedingt die Frauen, denen Zerbrechlichkeit unumstösslich nachgesagt wurde? Was wäre das für eine Vorstellung? Hielt ich mich allerdings zurück und vertraute auf die Intimität einer Beziehung, passierte auch wenig. Meine erste Freundin tat sich mit sexueller Annäherung schwer. Das sollte ich noch einige Male erleben. Und ich stelle mir die Frage: Droht die ständig heraufbeschworene Angst vor Vergewaltigung – ein Kernelement patriarchalen Denkens – Frauen nicht allen Mut in sexuellen Fragen zu nehmen?

Ich will also eine meiner Geschichten erzählen, nachdem ich nach #MeToo erst einmal zugehört habe. Ich habe mir Zeit gelassen, nachzudenken. Und ich will auch nicht, dass es so wirkt, als wollte ich widersprechen. Ich will nicht, aber ich will von meinen Erfahrungen berichten, damit das Schweigen auf männlicher Seite nicht mehr so beklemmend ist.

Das Sexualleben eines Täters

 
Ich gehöre also zu den Tätern – auch an einem lauen Herbstabend, an dem die Menschen noch ein letztes Mal vor dem Wintereinbruch durch die Strassen flanieren. Bunt sind die Blätter der Bäume und friedlich klingt das Stimmengewirr an den Tischen auf dem Gehsteig vor einem Café auf der Leipziger Karl-Liebknecht-Strasse, während ich warte. Ich bin verabredet mit einer Frau, die ich online kennengelernt habe. Auf ihren Wunsch hin treffen wir uns in einem gut besuchten Café. Mit einem fremden Mann in der Dämmerung im Park zu spazieren, wäre ihr mulmig, obwohl ursprünglich sie einen solchen Spaziergang vorgeschlagen hat – aber halt nicht erst um 20 Uhr. Früher ist mir aber nicht möglich. Ich warte an diesem Abend vergeblich. Und als ich bei meiner Rückkehr nach Hause den Chat-Verlauf nachvollziehen möchte, ob ich mich vielleicht bei Zeit und Ort vertan habe, ist das Match aufgelöst – der Chat gelöscht.

Dass ich die Abstraktionsarbeit zu leisten habe, mit den Ängsten um sexuelle Übergriffigkeit sei an diesem Abend wahrscheinlich nicht ich persönlich gemeint, gehört zu meinem Leben. Die Erfahrung mit einem negativen Stereotyp, dem bärtigen Lüstling gleichgesetzt zu werden, der in der Dämmerung hinter Büschen im Park lauert, ist lehrreich. Sie lässt mich spüren, was ein Schwarzer Freund meint, wenn er sagt: «Hätte ich mich jedes Mal über rassistische Untertöne beschwert, hätte ich in Deutschland heute keine Freunde.» Diese Lektion nehme ich, auch wenn sie weh tut, mit Freuden an. Schön ist das nicht, doch es hilft mir, auch wenn ich im Umgang mit Frauen allzu häufig einer reflexartigen Scheu begegne, die mich ausmustert, noch bevor eine Musterung überhaupt ins Auge gefasst wird.

Zugleich bin ich wütend. Zu Hause sitze ich eine Stunde lang in der Gemeinschaftsküche, singe lautstark Element of Crime mit, während mir beim Online-Schachspielen die Tränen über die Wangen laufen. Der Abend im Café ist nur die Spitze eines Eisbergs von höflichen Versuchen, die ins Leere laufen. Wortlos abgebrochene Chats oder SMS-Wechsel, plötzliches Schweigen nach dem zweiten Date. Halbherzige Zu- und kurzfristige Absagen. Fadenscheinige Ausreden. Und ein immer und immer wieder vorgebrachtes, knappes Sorry, das auf die denkbar lapidarste Weise Nachlässigkeit zu entschuldigen versucht. Das sind Erfahrungen, die mehr zu meinem Alltag gehören, als mir lieb ist.

Auch das gehört noch zu den Regeln des heterosexuellen Spiels. Die Aufgabe, Grenzen im und zum Guten zu überwinden und dabei ins Leere zu laufen, obliegt mehrheitlich mir als Mann. Und machen wir uns nichts vor: Jeder Form von menschlicher Kontaktaufnahme liegt eine Grenzüberschreitung zugrunde. Grenzüberschreitungen sind unumgänglich. An dieser Aufgabe zu zerbrechen, ist möglich. Unvertraut sind mir die psychischen Mechanismen eines solchen Zerbrechens beileibe nicht. Das endlose Baggern, und dabei begehren Frauen – auch da sollten wir uns nichts vormachen – Männer genauso wie umgekehrt, zermürbt mich immer wieder, gerade wenn alle Überwindungskünste ein ums andere Mal in Sackgassen enden. Eine Dynamik der Enttäuschung verstärkt sich. Fantasien regen sich in mir. Fantasien der Verfügbarkeit, die das Objekt der Begierde unterwerfen. Da spielt gerade im Internetzeitalter Pornografie eine Rolle – und ich kenne diesen Weg gut und exzessiv. Unterwerfungsfantasien lösen die Verfügbarkeitsfantasien mit der Zeit ab. Wenn ich dich schon nicht zwingen kann, schliesslich will ich weder Gewalt anwenden, noch wie Weinstein hinter Gittern landen, dann unterwerfe ich mich halt: Mach mit mir, was du willst – aber mach etwas!

So scheint es, als wäre das Wort «Baggern» als vulgärer Ausdruck sexueller Interessensbekundung nach altbekannter Geschlechtermetaphorik (Mutter Erde) und der klassischen Definition des Eigentums gebaut: Wer den Boden bestellt, dem gehört er. So die patriarchale Logik. Dass eine Leistung jedoch nicht unbedingt ihren Lohn mit sich bringt, liegt auf der Hand. Dass Fantasien aufkommen, in denen es ein Recht auf diesen Lohn gibt, ebenso. Schliesslich ist das besonders für weisse, heterosexuelle cis-Männer noch ein leitendes Prinzip unserer Gesellschaft: Anstrengung wird belohnt. Wem allerdings die Aufgabe zufällt, die Grenzen zu überwinden, läuft Gefahr, bereits in der verbalen Kontaktaufnahme übergriffig zu werden und setzt sich gleichzeitig grösster Peinlichkeit aus. Und dabei spielt diese Problematik bis in den Bereich subtiler Gewalt beim Sex in Langzeitbeziehungen hinein. Auch da kann ich nicht behaupten, ich sei in meiner Unbeholfenheit immer ein Unschuldslamm gewesen. Aber erst die erwähnte Trennung und die behutsame Aufarbeitung der gemeinsamen Beziehungsvergangenheit brachten nach und nach auch in meinem Leben ans Licht, welche Übergriffigkeiten trotz bestem Willen mein Sexualleben geprägt hatten. Auch bei dieser Aufarbeitung –sie ist noch nicht zu Ende – fliessen Tränen. Und sie ist nicht zu Ende, gerade weil meine schmerzhaften Erfahrungen – etwa die wiederkehrende verächtliche Ablehnung meines sexuellen Begehrens oder die anhaltende Tabuisierung des Pornografiekonsums, der mich zeitweise in eine Parallelwelt zwang – bislang kaum Raum hatten. Ob ich als Mann meiner Übergriffigkeit und meiner Besserwisserei wegen allen Kredit verspielt und keinen Anspruch auf die Anerkennung meiner Schmerzen mehr habe?

An diesem Abend ist mir nach einer Stunde des Singens danach, dem Klischee nachzuleben. Ein Mann mit seelischen Schmerzen betrinkt sich. So ziehe ich nach langem wieder einmal allein durch die Kneipen und setze mich mit einem Glas Bier – freundlich fragend – zum ersten Mann, der allein sitzt. Ein dreistündiges Gespräch ergibt sich. Ich kann das, Grenzen überwinden und mich der Peinlichkeit aussetzen, auch wenn es mich bisweilen Kraft kostet. Später geselle ich mich noch zu einer Frau, die mir mehrfach aufgefallen ist. Und auch da frage ich erst freundlich, bevor ich mich zu ihr an den Tisch setze und mein letztes Bier des Abends bestelle – ein kleines. Ich will ehrlich sein: Natürlich ist auch ein sexuelles Interesse im Spiel.

Aber spätestens als ich in der kahlen Wohnung dieser Frau stehe, wird mir bewusst, was ich geahnt habe. Ich würde nicht mit einer Frau ins Bett steigen, deren psychische Stabilität zu bezweifeln ich allen Grund habe. Sie zeigt mir noch Fotografien und selbst gemalte Bilder. Dann verabschiede ich mich. Sturzbetrunken schleppe ich mich den Weg zurück nach Hause. Froh bin ich, unendlich froh, dass ich an diesem Abend keine Dummheit begangen habe, und dabei weiss ich nicht einmal, ob ich mit meiner Zurückhaltung in ihrem Sinn gehandelt habe. Aber ich finde an diesem Abend nicht mehr die Kraft, diese Unsicherheit zu verbalisieren – und einmal mehr Grenzen mit dem Risiko der Peinlichkeit zu überwinden, auch wenn diese Aufgabe natürlich mir als Mann zufällt. Ich habe, auch wenn ich ein Täter bin, nichts getan. Ich habe diese Frau nicht ein einziges Mal – und schon gar nicht unstatthaft – berührt. Die seelischen Narben meines männlichen Sexuallebens aber sind mir an diesem Abend deutlich ins Bewusstsein getreten.

Keine Täter mehr: Befreiung männlicher Sexualität

 
Noch heute erlebe ich die Aufgabenteilung in heterosexuellen Begegnungen meist so, dass es mir als Mann zufällt, sexuelle Wünsche explizit zu äussern. Und dabei spielt es keine Rolle, ob ich mich mit einer zwanzigjährigen, einer dreissigjährigen, einer vierzigjährigen oder einer fünfzigjährigen Frau einlasse. Ein wirkmächtiger Rest dieser stereotypen Zerbrechlichkeit, die sich in abwartendem Verhalten äussert, bleibt. Und es spielt auch keine Rolle, in welcher Situation wir uns befinden: ob es um eine simple Kontaktaufnahme geht, um einen Nummerntausch oder den ersten Kuss auf einer Couch, damit zwei Menschen, die ohnehin miteinander schlafen wollen, endlich loslegen können – oder ob es um intime Berührungen geht, nachdem diese beiden Menschen längst schon halbnackt im Bett liegen. Verunsichern Erektionsprobleme, selbst wenn ich sie transparent mache, die Frauen so sehr, dass sie dann lieber die Finger vom Penis lassen? Ich bin davon – wie viele andere Männer auch – zeitweise betroffen. Versagt – gerade in Langzeitbeziehungen – die weibliche Fantasie, wenn es im Bett einmal nicht rund läuft? Emotionale und körperliche Zuwendung jenseits der standardisierten Vorstellungen (Penis rein, Penis raus) zu schenken, habe ich als Aufgabe kennengelernt, die jederzeit im Raum steht, deren Bewältigung abgesehen von teils stillen, teils verbalen Forderungen aber meist mir als Mann obliegt.

Mittlerweile kann ich mir diese Fragen nicht nur stellen, sondern auch besser mit ihnen umgehen. Ich habe Erfahrungen gesammelt, ich habe gelernt. Ich – ein weisser, heterosexueller, cis-Mann – bin längst kein unbedarfter Täter mehr. Im Gegenteil: Ich bin ein liebevoll sorgender Vater, der bewusst die Karriere der Kinderbetreuung untergeordnet hat und die Sorgearbeit mit der Mutter paritätisch teilt. Ich habe, wenn vielleicht nicht von Kind auf, Fürsorge gelernt. Ich lebe in einem grossen Gemeinschaftshaus. Ich bin ein sozialer Mensch, der sich um das emotionale Wohlbefinden der Menschen um ihn herum kümmert.

Der Weg – ihn zurückzulegen hat etwa zwanzig Jahre gedauert – war lang und er ist bestimmt noch nicht zu Ende. Aber wenn ich zurückblicke, stelle ich mit Bedauern fest: Ich hätte mir mehr Unterstützung gewünscht. Ich hätte mir mehr Unterstützung gewünscht, wenn es um die Gestaltung sensibler Situationen geht. Ich hätte mir mehr Unterstützung dabei gewünscht, mit den Zudringlichkeiten und Zurückweisungen – nicht nur den sexuellen – umgehen zu lernen.

Aber wahrscheinlich gehört eine profunde Einsamkeit zur heterosexuell-männlichen Existenz. «Abkapselung ist Männlichkeit», zitierte die amerikanische Feministin bell hooks den Familientherapeuten Terry Real bereits vor zwanzig Jahren in ihrem Buch Der Wille zur Veränderung – Männer, Männlichkeit und Liebe. Unter Männern lebe ich noch heute allzu oft in einer Welt von emotional unbeholfenen Einzelkämpfern. Emotionale Annäherungen, etwa wenn ich Zuspruch benötige oder in den Arm genommen werden möchte, aber meinen Wunsch nur zaghaft ausdrücke, fallen häufig unbefriedigend aus. Die Verständigung über emotionale Zustände gleitet – selbst unter alten und vertrauten Freunden – immer wieder in einen argumentativen Schlagabtausch über die richtige Sicht der Dinge oder ins Sprücheklopfen ab. Eine subtile Angst voreinander nimmt in emotionalen Belangen zu und zementiert die Verhältnisse. Und ich stelle immer wieder fest: Lieber unterhalten wir Männer uns über Weltpolitik.

Das steigert die emotionale Abhängigkeit – gerade junger Männer, die noch nicht über das nötige Prestige verfügen, um in der Welt der Männer Anerkennung zu finden – von Liebesbeziehungen zu Frauen, wie die Journalistin Peggy Orenstein in Boys & Sex (2020) herausstellt, und führt zu einer ständigen Verwechslung von Sex mit emotionaler Zuwendung. Wie mich das an meine Jahre in den Clubs erinnert. Dieser emotionalen Abhängigkeit entgehen zu wollen, stellt mich immer wieder vor die Alternative, entweder noch verstärkt eine enthaltsame Einsamkeit zu suchen oder in bewusster Selbstreflexion die Beziehungen unter Männern zu verändern. Mit der ersten Variante – ich bin Katholik und das Kloster ist eine Möglichkeit – liebäugle ich in schwachen Momenten, die zweite Variante ist mir lieber. Etwa mit einem neuen Generationenvertrag, der nicht auf demütigenden Unterwerfungsgesten im Austausch für Protektion und Förderung beruht, der Kameradschaft und Unterstützung nicht hauptsächlich im Kontext kämpferischer Bewährung (Militär, Sportvereine) und unermüdlicher Funktionalität (Arbeit) feiert, sondern körperliche und emotionale Nähe kennt, als wären Männer… als wären Männer… ja, als wären Männer ein bisschen mehr wie Frauen.

Noch im 21. Jahrhundert, meine Kindheit liegt dreissig Jahre zurück, bemerke ich das Fehlen meines Vaters im Haushalt. Das traditionelle Versorgermodell hielt ihn häufig von zu Hause fern. Emotionale Zuwendung ist für mich mit der Mutter verbunden und dabei ist mein Vater beileibe kein gefühlsarmer Kerl, der anstelle von emotionaler Zuwendung dauernd die Muskeln spielen lässt. Aber er hatte aufgrund seiner berufsbedingten Abwesenheit kaum Gelegenheit, jene bedingungslose Fürsorge zu lernen, die Kinder den Erwachsenen abverlangen, und so eine innige Beziehung zu den Kindern aufzubauen. Erst nachdem ich selbst Vater geworden war und die Beziehung zur Mutter meines Sohns in die Brüche gegangen war, drängte mich der Schmerz darüber, meinem Vater längst fällige Fragen zu stellen und damit ein Gespräch mit ihm zu führen, das er vor zwanzig Jahren schon hätte beginnen können. Wahrscheinlich war ich mit gut dreissig Jahren ob der eigenen Fehler demütig genug geworden, nicht rechthaberisch das Leben meines Vaters prinzipiell in Frage zu stellen, sodass es ihm endlich leichter fiel, zu antworten. Langsam und zaghaft entwickelte sich zum ersten Mal ein Gespräch, das die Augen vor der eigenen – männlichen – Lebensrealität, auch wenn es um heikle Themen wie Misserfolge, Emotionen oder Sexualität geht, nicht verschloss. Ja, ich kann das, Grenzen überwinden. Ob die Scham, in der monogam-katholischen Ehe womöglich nicht über ein aufregendes Sexualleben zu verfügen, über das sich glamouröse Geschichten ausbreiten liessen, meinen Vater am Reden hinderte? Ob er sich angesichts beschränkten Wissens lieber zurückhielt, um von der jüngeren – vermeintlich so viel bewanderteren – Generation nicht blossgestellt zu werden? Ob ihn doch immer wieder Ängste bezüglich seiner Beziehung zu den Kindern überfielen? Einmal, so erzählte mir meine Mutter, hätte er sie konsterniert gefragt: Warum weisst du so viel über die Kinder?

Also leistete meine Mutter wahrscheinlich auch in dieser Situation anstelle von mir emotionale Sorgearbeit. Eine Ungerechtigkeit ist es, die emotionale Sorgearbeit um Männer den Frauen aufzubürden. Zurecht haben Frauen sich dagegen zu wehren begonnen. Eine Ungerechtigkeit ist es aber auch, männliche Sexualität nur zu thematisieren, wenn sie – etwa wenn es um Vergewaltigung, Prostitution oder Pornographie geht – problematisch ist. Mir scheint es, als bräuchte es eine neuerliche – männliche – sexuelle Befreiung, damit die Vulgarisierung männlicher Sexualität nicht weiter anhält. Während Frauen bereits sprachsensible Vulven und Vaginen haben, tragen sexuell nimmermüde Männer, die – trotz vehementer Debatten um ein explizites Einverständnis in sexuellen Begegnungen – kaum feinfühlig nach ihren sexuellen Bedürfnissen gefragt zu werden brauchen, ihre ‹Schwänze› vor sich her. Zugleich leben diese Männer in einer Welt, die sie auf Schritt und Tritt mit halbnackten Frauen auf Plakatwänden und in Werbespots konfrontiert. Natürlich haben Männer diese Welt so eingerichtet, sie wird aber von den Gattinnen jener Männer und mittlerweile auch mehr und mehr von geschäftstüchtigen Frauen gestützt. Zu erfolgsversprechend ist die Maxime: sex sells.

Aber ich weigere mich, für Sex zu bezahlen. Mag sein, dass mein Sexualtrieb so überbordend ist, dass ich ihn ab und an auf unkonventionelle Weise befriedigen will. Eine innige sexuelle Begegnung ist mir dennoch lieber, als das schnöde Abreagieren eines Triebs. Ich habe mich bislang immer der Prostitution entzogen und werde doch von ihren Mechanismen hineingesogen. In Swinger-Clubs – auch ich habe bezahlt – bezahlen Männer mehr als Frauen, auf Dating-Portalen – auch da bin ich – haben Männer mit den kostenlosen Versionen nur geringe Erfolgschancen. Und die Pornografie ist so penetrant auf Männer zugeschnitten, dass sich manch einer wahrscheinlich – trotz unermesslicher kostenloser Amateur-Angebote – zur Bezahlung drängen lässt. Dabei wird die Sexualität von willigen (oder genötigten) Frauen genauso ausgebeutet wie die männliche Sexualität. Knappes Angebot (frigide Frauen), riesige Nachfrage (notgeile Männer). Mit diesem Gefälle, das nach alten Stereotypen gebaut ist, lässt sich wirtschaften. Und ich frage mich: Wer verdient daran? Und wer arbeitet eigentlich so viel, um all das bezahlen zu können? Und wie ich das so aufschreibe, scheint es mir fast zwingend, dass Männer deswegen so viel arbeiten und kaum häusliche Sorgearbeit leisten, um über die nötigen finanziellen Mittel für diesen Zirkus zu verfügen. Aber natürlich stimmt das nicht. Mein Vater jedenfalls arbeitete viel, ohne – soweit ich weiss – Prostitution, Swinger Clubs oder Online-Kontaktbörsen in Anspruch zu nehmen.

Ist es wesentlich an den heterosexuellen cis-Männern, sich durch gegenseitige emotionale Unterstützung gegen Zudringlichkeit und Reduktion auf sexuelle Stereotypen zu wappnen und die Übersexualisierung der Welt abzubauen, so verspräche ein Ausgleich zwischen den Geschlechtern bei allen nötigen Anstrengungen mehr Erfolg. Ist oft von formaler Gleichheit – wie der Lohngleichheit – die Rede, gehen weiche Aspekte umso mehr unter: Wie steht es um die Passivität von Frauen im heterosexuellen Spiel, obwohl beide Geschlechter einander begehren? Orenstein berichtet mit Blick auf feministische Kreise – und ich habe das kaum anders erlebt – genauso davon, dass die unterschwellige Erwartung anhält, Männer hätten den ersten Schritt zu machen, wie davon, dass emotional responsive Männer zwar prinzipiell erwünscht, aber dennoch nicht begehrenswert erscheinen.

Jenseits von Opfern und Tätern

 
Meine Ermüdung nimmt zu. All diese Reflexionsarbeit zu leisten und dennoch im ständigen Zweifel zu sein, zermürbt. Lohnt sich die Selbsthinterfragung oder landen meine eigenen Wünsche und Hoffnungen vielleicht doch im Dreck, weil meine Anstrengungen am Ende nicht ausreichen oder weil ich gegenüber den Konkurrenzhirschen mit dickem Portmonee und Machtposition doch leer ausgehe? Bräuchte ich die nötigen Statussymbole, Lock- und Bestechungsmittel, um auf der Bühne des heterosexuellen Spiels nicht unzufrieden zu werden? Aber ich suche doch ein egalitäres Geschlechterverhältnis, das auf Sympathie und Zuwendung und nicht auf einem kleinkrämerischen Gütertausch von Geld und Sex beruht. Ein Gütertausch, der sich nur graduell von Prostitution und Zuhälterei unterscheidet. Aber dafür müssten Frauen ökonomisch noch unabhängiger sein. Allzu häufig gehen Frauen noch prekärer Teilzeitarbeit nach, während Männer in gutbezahlten Vollzeitjobs arbeiten. Die Katze beisst sich in den Schwanz.

Die Diskussion um einvernehmlichen Sex zementiert die Verhältnisse allzu oft. Und wohlgemerkt: Einvernehmlicher Sex ist ein unhintergehbarer Massstab. Dennoch erscheinen Männer in der Diskussion meist als diejenigen, die ein ‹Ja› der Frau zu erfragen haben, während kaum davon die Rede ist, dass Frauen von sich aus ihre Wünsche äusserten. Wenn Männer, was längst fällig ist, in der Öffentlichkeit genauso wie in der intimen Beziehung mehr Zurückhaltung üben sollten, so müssten Frauen mehr Gestaltungsverantwortung übernehmen. Wenn Männer endlich mehr hören, statt sagen sollten, so wäre es an den Frauen, etwas zu sagen – und nicht klein beizugeben, wenn sie einmal überhört werden.

Ich tue mich schwer mit Zurückhaltung. Obwohl einmal ein introvertierter Jugendlicher musste ich überall lernen, mich in den Vordergrund zu stellen, wenn ich sozial aufgenommen sein wollte: ob in Diskussionen an der Uni oder auf dem Handballfeld – und noch heute scheint das als Schriftsteller und Journalist meine Aufgabe zu sein. Durchsetzungsfähigkeit, Schlagfertigkeit, Redegewandtheit – und eine unerschütterliche Selbstsicherheit, die die halbe Zeit geheuchelt ist: Diese zäh erlernten Fähigkeiten heute zugunsten eines egalitären Geschlechterverhältnisses zu moderieren und den mit ihnen eingestrichenen Erfolg aus der Hand zu geben, ist wahrscheinlich meine grösste Überwindungsaufgabe. Ob er einmal aus der Hand wohl wieder zurückkehrte? Beruhigend wäre es, meine Zurückhaltung würde von Entschlossenheit auf weiblicher Seite aufgefangen, statt dass sie ins Leere fällt. Aber wie ich mich mit Zurückhaltung schwer tue, tun sich die Frauen, denen ich begegne, meist schwer, angesichts einer unsicheren Situation zu handeln, statt abzuwarten, im Zweifelsfall etwas zu sagen, statt zu schweigen, Risiko und Verantwortung zu übernehmen, statt auf Sicherheit zu spielen.

Und ich befürchte immer mehr: Vermögen wir diese Rollen – ob bei einem ersten Kennenlernen oder nach dreissig Jahren Ehe – nicht zu verschieben, bleiben Männer potenzielle Täter, die nur mit Mühe ihre Triebhaftigkeit im Zaum halten und diesen Trieb allzu häufig bloss gewaltsam ausdrücken – wie subtil auch immer das geschehen mag. Frauen wiederum bleiben potenzielle Opfer, die kein Verhältnis zu ihrem eigenen Begehren haben und auch keine Ausdrucksformen dafür kennen. Ich will nicht in einer solchen Welt leben.

Wahrscheinlich, so stelle ich mir vor, wäre auch der Sex besser, wenn ihm nicht endlose Balztänze vorausgingen. Balztänze, die – wie die Unsitte des Antanzens von hinten – allzu häufig einem nonverbal-hilflosen ‹Rumkriegen› als einem erotischen Spiel gleichen. Und die evolutionsbiologisch inspirierte Female Choice (2021) Meike Stoverocks, die Frauen gegen die rape culture berechtigterweise die Verfügungsgewalt über ihre eigene Sexualität wieder zurückgeben will, wird daran auch nichts ändern, wenn sie auf dem Weg zurück ins Tierreich bloss auf Seiten der Männchen die ohnehin schon bestehende Konkurrenz um Weibchen anheizt. Schliesslich hat die Evolution auch das bestehende Geschlechterverhältnis hervorgebracht. Ich will lieber vorwärts schauen. Wahrscheinlich wäre der Sex einfühlsamer und einvernehmlicher – ohne damit sagen zu wollen, er könne nicht auch wild, leidenschaftlich und spielerisch sein –, wenn die Begegnung auf Vertrauen statt auf Eroberung und Abwehr basierte. Vielleicht weitet sich dereinst der Raum, sodass eine zutraulich-verbale Kontaktaufnahme, anstelle beiläufig-verschämten Grabschens, auf empfängliche Ohren stösst und der Ausgangspunkt der heterosexuellen Begegnung Empathie ist – ein sich Hineinversetzen in die Wünsche und Hoffnungen des Gegenübers. Auf dass das je andere Geschlecht Anlass zur ihm gerechten Freude und nicht Anlass zur Angst sei.

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