Da ist (immer) noch ein anderer Mensch
Dieser Text erschien am 29. Dezember 2019 in der NZZ. Leider befindet sich der Text bei der NZZ hinter der Paywall und ist entsprechend nicht frei zugänglich.
„Meine Frau hat sich in einen anderen verliebt.“
Lukas redet schnell und laut. Zwischen seine Sätze streut er erzwungene Lacher. Neben ihm sitzt seine Frau, Vera. Sie hat noch nichts gesagt, noch nichts sagen müssen.
Die beiden sitzen in einer Runde, beim monatlichen Polyamorie-Treff in Leipzig. Die Leute stellen sich reihum vor, oft verbunden mit einer Art Outing: „Ich bin seit so und so vielen Jahren poly.“
Lukas und Vera sind nach längerer Beziehung seit sechs Monaten verheiratet. Heute besuchen sie zum ersten Mal den Polyamorie-Treff. Und Lukas schildert ein alltägliches, aber deshalb um nichts weniger schmerzhaftes Drama.
Wovon reden wir?
Polyamorie: Das hört sich zunächst nach einem schicken Modewort an. Häufig wird der Begriff synonym mit ‚offene Beziehung‘ verwendet – und meint dann einfachen Sex und kürzere Affären ausserhalb einer klar definierten Kernbeziehung.
Allerdings kann Polyamorie mehr heissen, nämlich „verantwortungsvolle Nicht-Monogamie“, in der „alle involvierten Personen mit allen Bedingungen und Voraussetzungen einverstanden und sich aus eigenem Willen darauf einlassen“. So jedenfalls definieren Thomas Schroedter und Christina Vetter die Beziehungsform in ihrem theoretischen Überblick.
Ist „poly“ also eine sexuelle Ausrichtung vergleichbar mit Hetero- oder Homosexualität. Ist sie eine ernstzunehmende Lebensform oder schlicht eine Modeerscheinung? Und meint Polyamorie einen politischen Kampfbegriff in linker Tradition oder einfach eine Privatsache liberalen Zuschnitts?
Mit der freien Liebe der 68er stand die Befreiung der Sexualität überhaupt im Zentrum, seit den 90ern und mit der Polyamorie rücken Liebesbeziehungen in den Fokus. Sie mögen zwar Sex umfassen, beschränken sich aber nicht darauf. Die Spielarten sind unzählig und reichen von asexuellen Liebesbeziehungen bis zu verantwortungsvollen One-Night-Stands.
Zum fürsorglichen Umgang mit Körper und Geist gehören die Vermeidung von Krankheitsübertragung genauso wie die Sorge um die emotionale Stabilität der Beteiligten. Geteilte ökonomische Verpflichtungen mögen ebenso dazu zählen wie geteilte Kindererziehung. Verantwortung bedeutet in der Polyamorie ein Maximum an Rücksichtnahme.
Ehe, oder nicht?
Vera lernte ihren Geliebten bei einem Swinger-Club-Besuch kennen, zu dem sie ihr Ehemann eingeladen hatte. Der neugierige Versuch, das eigene Sexualleben zu bereichern, führte zu unerwarteten Konsequenzen. Diese kamen für beide vielleicht überraschend und ungewollt – nun wollen sie aber auch einen Umgang mit ihnen lernen.
Was für Vera und Lukas gilt, stimmt auch im Allgemeinen: Für eine praktische Auseinandersetzung mit Polyamorie sind Experimentierfreude und Neugierde unerlässlich. Das zunehmende Interesse an Polyamorie beweist aber noch lange nicht ihre generelle, gesellschaftliche Funktionstüchtigkeit.
Die Auseinandersetzung mag unter anderem von der Frage getrieben sein, ob die Verheissungen der von einer romantischen Liebesvorstellung geprägten Ehe nicht doch täuschen. Auch siebzig Jahre nach Simone de Beauvoirs feministischer Demontage der patriarchalen Ehe in „Das andere Geschlecht“ scheinen hier neue Antworten gefragt. Reduziert der Bund fürs Leben, diese ausschliessliche Zweisamkeit in der meist unausgesprochenen Hoffnung vollkommener gegenseitiger Ergänzung, einfach Komplexität? Und dies zugunsten von emotionaler und ökonomischer Sicherheit – wie Imre Hofmann in seiner gemeinsam mit Dominique Zimmermann verfassten theoretischen Reflexion vermutet?
Noch vor jeder Praxis ist Polyamorie die Anerkennung, dass die traditionelle Ehe ihre Probleme kennt und kaum Anspruch erheben kann, allein selig zu machen. Andererseits sind Konzepte wie Polyamorie schlicht der Ausdruck veränderter ökonomischer, rechtlicher und sozialer Bedingungen. Fast alle Menschen machen Ausbildungen, ziemlich alle können ihren Lebensunterhalt selber erarbeiten. Braucht sich ewig und ausschliesslich zu binden, wer für sich selber sorgen kann?
Kein Entweder-Oder
In so mancher Ehe mag die Ausschliesslichkeit klammheimlich aufgegeben worden sein – zuweilen zur Rettung eben dieser Beziehung. Gegen aussen bestimmt die Treue dennoch vielfach das Bild. Auch Lukas hat daran seine Erinnerungen: „Meine Mutter, verheiratet mit einem Fleischer, verliebte sich damals in ihren Chorleiter. Vor die Wahl zwischen ihrem neuen Liebhaber und dem Ehemann gestellt, hat die erzwungene Entscheidung die Ehe zermürbt, obwohl meine Mutter beim Vater geblieben ist.“ Die beiden würden zwar noch unter einem Dach wohnen, doch zu sagen hätten sie sich schon lange nichts mehr. Lukas‘ Schluss daraus: „Ich will das nicht.“
Klar ist aber auch: Lukas und Vera möchten ihre Ehe nicht grundsätzlich in Frage stellen. Lukas liebt Vera und umgekehrt. Sie möchten zusammenbleiben und gerade deshalb versuchen, Liebesbeziehungen ausserhalb des traditionellen „Entweder-Oder“ zu verstehen beginnen.
Zunächst einfach ein Problem
Bereits in der Vorstellungsrunde zeichnete sich aber ab, dass die Situation vielschichtig ist: Lukas hat zunächst einfach ein Problem. Seine Frau liebt auch noch einen anderen. Ihm wäre es recht, es gäbe diesen Anderen nicht. Die Hoffnung: Vielleicht wissen Menschen aus der Poly-Szene einen Rat. Er sucht Hilfe.
Vera hingegen versteht sich neuerdings wirklich als „poly“ und Teil der Szene. Sie will ihren Mann verkuppeln, damit das Gleichgewicht wiederhergestellt ist – und das schlechte Gewissen verschwindet. Auch in erklärten Polybeziehungen ist das schlechte Gewissen gemäss einer Studie von Karoline Boehm ein häufiges Thema. Lukas ist unwohl bei der Sache. Leise aber beharrlich nagt die Eifersucht an ihm, und verlieben mag er sich auch nicht auf Befehl.
Eifersucht und Gewissensbisse
Das Gelingen polyamorer Konstellationen ist in einer Monokultur zwangsläufig erschwert. Es gibt keine Tradition offen gelebter Intimbeziehungen. Neben dieser Marginalität nennt der erwähnte theoretische Überblick die Eifersucht als zweites zentrales Thema. Sie ist unweigerlich da. Doch auch durch die Ausschliesslichkeit der Ehe lässt sie sich keineswegs beiseiteschieben. Zuweilen ist das Gegenteil der Fall.
Ebenso wenig lässt sie sich durch die Schocktherapie der freien Liebe heilen, wie das oft angeführte Buch „Eifersucht“ von Catherine Millet zeigt. Umgekehrt ist klar: Sie ist kein angenehmes Gefühl. Ein aktiver Umgang scheint dabei weit wünschenswerter als vorauseilende Verhinderung oder programmatische Negation.
Lukas und Vera scheinen das anzunehmen – egal in welche Richtung sich ihre Liebesbeziehung bewegen wird: ob hin zur Polyamorie oder wieder zurück in die monogame Ehe. Sie ringen um einen Konsens jenseits von unreflektierten Selbstverständlichkeiten.
Ausgangspunkt: Ich weiss es nicht
Reden bedeutet dabei nicht, dass Eifersucht abtrainiert werden will. Sie ist kein gleichförmiger Zustand; hinter ihr verbergen sich, so Easton und Hardys Szeneklassiker, nicht nur Gefühle des Unwohlseins, die von schlichtem Übergangensein bis zu Missgunst reichen mögen. Die Eifersucht entsteht und vergeht auch: Im Zusammenhang mit Person X ist sie da, nicht aber mit Person Y. Heute fühlt sich ein Partner gut und ist nicht eifersüchtig, morgen vielleicht schon.
Die Unsicherheit, die während der Vorstellungsrunde spürbar war, ist ein guter Ausgangspunkt. Sie verhindert vorschnelle und panische Entscheidungen. Wo die Unsicherheit fehlt, besteht vordergründig kaum Redebedarf. Zugleich wirken weit mehr soziale Situationen verunsichernd, als wir zulassen möchten. Gerade die Gefahr, sich anderweitig zu verlieben, ist ohnehin unter beinahe allen Umständen gegeben.
Die Konsensorientierung der Polyamorie und die Teilhabe am Erleben anderer brauchen dabei nicht als masochistische Praxis aufgefasst zu werden, mit der sich Menschen die Eifersucht abgewöhnen wollen. Auch wenn es keine Garantie gibt: Mit behutsamer und möglichst gewaltfreier Kommunikation können sich Unsicherheit und Verletzung in Aufgehobensein und letztlich Mitfreude verwandeln.
Das behutsame Vorbereiten ist ebenso unumgänglich wie das ehrliche Nachbereiten von Situationen. Vorausschauend soziale Beziehungen zu gestalten. Sich frühzeitig auf Dinge einzulassen und mit einem Gedanken anzufreunden, scheint Voraussetzung, um im Moment selbst ein Maximum an Unbeschwertheit erleben zu dürfen, ohne die Achtsamkeit für den Augenblick aufzugeben.
(Ein) Mensch hat die Wahl
Das alles ist anspruchsvoll und zeitintensiv. Kennt die Ehe ihre Probleme, so dürfte klar sein, dass auch polyamoröse Beziehungen kaum ein problemloses Leben garantieren. Aber das Recht, sein eigenes Unglück wählen zu können, scheint dennoch bedenkenswert.
Die Frage ist, was ein Mensch will: Sich mit dem potenziell klaustrophobischen Gefühl einer geschlossenen Ehe auseinandersetzen – oder den möglicherweise zeitraubenden Komplikationen eines vielfältigen Beziehungsgeflechts? Oder ins Positive gewendet: Mag ich die Vertrautheit eingespielten Alltagsverhaltens – oder suche ich die Herausforderung eines fliessenden Beziehungsgefüges?
Nichts unterscheidet letztlich polyamore Beziehungen von monoamoren– ausser, dass der Reflexionsdruck erhöht ist. So kommen polyamore Erfahrungen auch monoamoren Beziehungen zugute. Eastons und Hardys „Schlampen mit Moral“ ist eine hilfreicher Erfahrungsbericht, der das Beziehungs- und Sexualleben aller Menschen bereichert, unabhängig von der praktizierten Liebesform. Auch wenn nicht alle, aber doch manche, von sich sagen: „Und meist gefällt uns, wenn unser Leben kompliziert ist.“
Lukas und Vera jedenfalls nehmen die Polyamorie ernst und wollen von ihren Erfahrungen lernen. Ob sie ihre Lebensform sein und bleiben wird oder ob Lukas und Vera wieder in die Ehe zurückkehren werden? Niemand kann das sagen. Sicher ist aber, dass die Menschen am Polyamorie-Treff in Leipzig, und ähnliche Treffs gibt es auch in Schweizer Städten wie Zürich, Bern und Basel, sensibel für die Veränderungen von Beziehungen sind. Denn wie die Eifersucht sind auch Beziehungen nicht gleichförmig. Ein Mensch – und mit ihm seine Beziehungen – mag einmal vermehrt der Ehe und einmal vermehrt der Polyamorie zuneigen.
Der Bericht ist der Feder eines sorgfältigen, offenen, einfühlsamen Beobachters entsprungen. Danke dir, dass du dich dieses Themas angenommen hast, zudem ausgerechnet in der wertekonservativen NZZ.
Dass er mehr Fragen aufwirft, als Antworten gibt, hat wohl mit dem komplexen Thema zu tun. Wobei: (lebendige) Beziehungen sind sowieso immer komplex 😉
Etwas schade finde ich, dass die Vorteile der Polyamorie kaum zur Sprache kommen, ausser dass sie häufig reflektierter gelebt werden.