Die Politik des freien Verses

 

Eine gekürzte Fassung unter dem Titel „Das Gedicht hat seine Fesseln abgelegt, nun irrt es ziellos umher“ hat die NZZ am 22. Mai 2021 publiziert.

 

Der freie Vers? Ein alter Hut. – Seine Wurzeln reichen bald drei Jahrhunderte zurück, etwa zu Klopstock. Und sein aufsehenerregender Durchbruch zu einem dominanten literarischen Phänomen Mitte des 20. Jahrhunderts ist auch schon mehr als ein halbes Jahrhundert her. Mittlerweile erscheint, was Gedicht sein will, meist im freien Vers. Manche atmen darob auf und sagen immer noch mit dem Pathos des Neuen: endlich kein Metrum, endlich kein Reim mehr. Das Gedicht ist an nichts mehr gebunden.

Seither fehlen neue Gedichtformen weitgehend. Und ich werde ein Unbehagen nicht los, das mit dem ästhetischen Prinzip des freien Verses zusammenhängt. Dieses will dem dichtenden Menschen und seinen Gegenständen im Einzelnen gerecht werden. Aber immer wieder beschleicht mich der Verdacht, der freie Vers könnte, obwohl er als Ausdrucksform dem Einzelnen gerecht werden möchte, im Ganzen ungerecht – und damit unfrei – sein.

Das Prinzip des freien Verses

 
In einer Art Demokratisierung hat der freie Vers Gedichte aus ihrer hohen Sphäre auf den Boden der Tatsachen heruntergeholt. Fordern keine hochtrabenden Formen wie klassische Oden oder Balladen mehr entsprechend erhabene Gegenstände wie Gott, Tugend, Liebe oder Tod und umgekehrt, so kann jeder Gegenstand Thema sein und seine ihm angemessene Form finden. Alltagsbanalitäten ebenso wie Impressionen des Moments. Das ungebundene Gedicht versucht diesen Tatsachen in seiner Form gerecht zu werden, ohne sie, wie die traditionellen Formen, in ein vorgegebenes Korsett zu zwingen. Dagegen ist doch nichts einzuwenden. Nein, dagegen ist – im Einzelnen – wirklich nichts einzuwenden.

Der freie Vers ist eine grandiose Erweiterung der Lyrik. Er folgt der Maxime: „Form follows function.“ Wie Jakobsons Paradigma der poetischen Funktion der Sprache im Slogan von Dwight D. Eisenhowers Präsidentschaftskandidatur „I like Ike“, klingt diese Formel nicht nur hübsch, sondern sie entfaltet auch unbestrittene Plausibilität. Omnipräsent ist heute das Produktdesign, in dem diese Formel ihre Anwendung findet. Und selbst wenn dieses Design einmal keinem handfesten Zweck Form verleiht, wie beispielsweise der Kult um Apple-Produkte nahelegt, so bleibt dieses Design im «ästhetischen Kapitalismus» (Boehme) immer noch dem Zweck verhaftet, Ware zu verkaufen: Geld zu machen.

„Form follows function“ ist der prägnanteste Ausdruck eines Funktionalismus, der sich seit der Aufklärung auf breiter Front durchzusetzen begonnen hat. Sie geht auf den amerikanischen Wolkenkratzerarchitekten Louis H. Sullivan zurück. Den künstlerischen Kern seiner Architektur bestimmte Sullivan 1896 so: „Ob es der schweifende Adler auf seinem Flug ist oder die geöffnete Apfelblüte, das sich abplagende Arbeitspferd, der majestätische Schwan, die sich verzweigende Eiche […]: Die Form folgt immer der Funktion, und dies ist das Gesetz. Wo sich die Funktion nicht ändert, ändert sich die Form nicht.“ Der biologistische Einschlag verrät die Herkunft: Darwins Evolutionstheorie mit ihren ökonomischen Inspirationsquellen.

Der naturalisierte Markt

 
Adam Smiths Marktliberalismus, der auf dem Eigeninteresse individueller Marktteilnehmender fusst, verbunden mit Thomas Malthus‘ Populationsgesetz, wonach die Bevölkerung im Gegensatz zur landwirtschaftlichen Produktion exponentiell wachse, münzte Darwin in den reproduktiven Konkurrenzkampf individueller Organismen um. Und soll wie durch Zufall aus dem Eigeninteresse der Marktteilnehmenden eine harmonische Ordnung entstehen, so bestätigt die Natur mit ihrem mirakulösen Zusammenspiel unzähliger Organismen Smiths ökonomische Intuition. In fortwährender Anpassung an die Umwelteinflüsse über geologische Zeiträume hinweg erhält sich dieses natürliche Zusammenspiel trotz fortwährender Veränderung.

1859 schreibt Darwin in The Origin of Species: „[T]he law of the Conditions of Existence is the higher law; as it includes, through inheritance of former adaptations, that of Unity of Type.“ Das will heissen, dass die Form unterschiedlicher gegenwärtiger Organismen (Unity of Type) vergangene funktionalistische Anpassungen, welche Umwelteinflüsse (Conditions of Existence) aufdrängten, konserviert. Das ästhetische Echo dieses Funktionalismus hallt noch Mitte des 20. Jahrhunderts bei einem so unvermuteten Autor wie Adorno nach. Seine Ästhetische Theorie beginnt mit dem Satz: „Ästhetische Form ist sedimentierter Inhalt.“

Die angelsächsisch-funktionalistische Tradition scheint sich – mit dem viktorianischen Imperialismus im 19. Jahrhundert und mit amerikanischer Schützenhilfe im 20. Jahrhundert – durchgesetzt zu haben. Die Basis dieses Denkens ist das Individuum – ein einzelner Organismus, eine einzelne Arbeitskraft, ein einzelnes Kunstwerk, ein einzelner Künstler – und nicht die Gesellschaft, deren „emergent reality“ (Karl Polanyi) in den sozialen Krisen des 19. Jahrhunderts erst wahrgenommen werden musste.

Das einsame Gedicht

 
Auf dem Kontinent gab es für das Insistieren auf diesem Individualismus gute Gründe. Dass das Individuum – oder die „Kreatur“ in Celans Meridian-Rede – Gerechtigkeit fordert, ist angesichts des Schicksals Paul Celans, des berühmtesten deutschsprachigen Lyrikers, der im freien Vers geschrieben hat, nur zu verständlich. Die totalitäre Reaktion des Nationalsozialismus auf das kollabierte politisch-ökonomische System des 19. Jahrhunderts war verheerend. Und dass ein Mensch wie Paul Celan sich die deutsche Muttersprache nach den Gräueln des Holocaust nur unter den prekären Bedingungen des freien Verses wieder anzueignen versuchen konnte, ist zu bedenken.

Sein Versuch verdient unbedingte Bewunderung, ist aber eben auch Einzelfall. Denn um den Einzelfall – um den in der Erfahrung des Holocaust zur Vereinsamung verdammten Menschen – ging es Celan. Und nur mit seinen Gedichten als „verzweifeltes Gespräch“ – innerhalb „der von der Sprache gezogenen Grenzen“, aber eben auch der „von der Sprache erschlossenen Möglichkeiten eingedenk bleibenden Individuation“ – konnte er sich an ein „Du“ (Paul Celan) wenden.

Der freie Vers ist in doppeltem Sinn – positiv in seiner Befreiung von Zwängen, negativ als Ausdrucksmittel der Vereinsamung in Gewalterfahrungen – das künstlerisch-literarische Erbe einer „utopian market economy“ (Karl Polanyi), die im 19. Jahrhundert mit ebenso viel Gewalt umzusetzen versucht wurde, wie sie die kommunistischen oder nationalsozialistischen Antworten im 20. Jahrhundert angewandt haben. Von der Vereinsamung wiederum, die in diesen Gewalterfahrung liegt, zehrt der freie Vers. Aber als Ausdrucksmittel bleibt er einsame Klage.

Gedichte heute?

 
Mich mutet das ungebundene Gedicht in seiner Dominanz manchmal wie eine groteske historische Verirrung an. Es vergisst die Herkunft seines individualistischen Potenzials und wird so blind für seine Folgen: individualistische Vereinzelung – ästhetisches Anhängsel marktschreierischen Produktdesigns. Der freie Vers hinkt seinen Gegenständen hinterher und läuft Gefahr, aktive Gestaltungskraft zu verlieren. Er verliert sich im Einzelfall, verliert Zusammenhänge aus dem Blick. Er vegetiert – „Das Gedicht ist einsam.“ (Paul Celan) – für sich allein – wie die vereinzelte Arbeitskraft auf dem freien Markt.

Zweifellos ist die Vorstellung, die einzelne Arbeitskraft könne sich beliebigen Gegebenheiten anpassen, irrig. Denn die Arbeitskraft hat eben nicht geologische Zeiträume zur Verfügung, um diese Anpassungsleistung zu vollziehen. Einmal hierhin und einmal dorthin Arbeitsplätzen hinterherzujagen oder immer neue Umschulungen zu bewältigen. Der freie Arbeitsmarkt hat die breite Bevölkerung im 19. Jahrhundert ins Elend der Industriestädte gestürzt. Erst die Arbeiterbewegung, der neuerliche Zusammenschluss der individualisierten Arbeitskräfte, schaffte den Missständen in den Fabriken Abhilfe. Und die Frage darf nach der neoliberalen Wende erlaubt sein: Geraten wir heute mit dem wachsenden Prekariat nicht in eine ähnliche Situation?

Ungeachtet dessen singt der freie Vers mit seinem «monarchischen Zug» (Peter Szondi) immer noch das Hohelied des Individualismus und fällt – ohne die konkrete Gewalterfahrung von Szondi, Celan und Adorno als vermeintlich „schwierigste Form von allen“ (Jan Wagner) – demselben ästhetizistischen Glasperlen-Elitismus anheim, gegen den er angetreten ist. Ungebunden gleicht er der elitären Finanzwirtschaft, die losgelöst von realwirtschaftlichen Zusammenhängen und nur unzureichend reguliert – frei – mit sich selber spielt.

Tatsächliche Individualität können sich in einer Marktgesellschaft nur die Wenigsten leisten. So biedert sich der freie Vers entweder bei der – besitzenden – Elite an oder stürzt ins Prekariat ab. Lässt sich, und das nur eine Nebenbemerkung, an diesem Ort die Marginalität von Gedichten heute vermuten? Lohnt sich die Anstrengung über den unmittelbaren Moment hinaus nicht mehr, weil sich im 21. Jahrhundert auch die Arbeit nicht mehr lohnt?

Der französische Ökonom Thomas Pickety beobachtete schon 2013, dass „das Gefälle zwischen den Arbeitseinkommen wächst“, während „die Kapitalrendite“ in den industrialisierten Ländern gleichzeitig „deutlich und dauerhaft höher ist als die Wachstumsrate“ der Wirtschaft. So „überwiegt fast unvermeidlich die Erbschaft […] die Ersparnis“. Verheisst die „meritokratische Ordnung“ zwar Aufstiegschancen, so tut sie dies unter den geschilderten Umständen „zum Nachteil des kleinen und mittleren Arbeiters“. Und „das heißt“, Pickety drückt sich pointiert aus, „in gewisser Weise, dass die Vergangenheit sich anschickt, die Zukunft zu fressen.“

Freiheit erhalten

 
Keine Frage, die – demokratischen – Freiheiten des freien Verses sind ebenso erhaltenswert wie die individuellen Freiheiten, welche die Marktwirtschaft hervorgebracht hat. Dem österreichischen Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi was das bei aller Kritik an der Marktökonomie nur zu bewusst: „Yet there are freedoms the maintenance of which is of paramount importance. They were, like peace, a by-product of nineteenth-century economy, and we have come to cherish them for their own sake.“ (Karl Polanyi) Aber was es wohl dafür braucht?

Polanyi hat auf das Ganze der Gesellschaft, die nicht nur aus – einzelnen – Eigentümer:innen besteht, aufmerksam gemacht: „This means the fullness of freedom for those whose income, leisure, and security need no enhancing, and a mere pittance of liberty for the people, who may in vain attempt to make use of their democratic rights to gain shelter from the power of the owners of property.“ (Karl Polanyi) Brauchen wir – als Gesellschaft! – die Geschichte des 19. Und 20. Jahrhunderts – zum Beispiel mit der AfD in Deutschland oder dem um sich greifenden Isolationismus in den USA – im 21. Jahrhundert wirklich blindlings weiterzuführen oder gar zu wiederholen?

Denker wie Adorno und Horkheimer, die mit der Dialektik der Aufklärung den Weg von der Aufklärung zum totalitären Regime nachzeichneten, oder der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi, der 1944 mit The Great Transformation die Umsetzung der liberalen Marktideologie und ihre Folgen im 20. Jahrhundert aufzeigte, haben diese Zusammenhänge dargelegt. Diese Zusammenhänge wären vielleicht auch beim Schreiben von Gedichten – in freien Versen – zu berücksichtigen, damit die Freiheit dieser Gedichte einen Sinn hat und erhalten bleibt.

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