Polanyis Pendel und Migration in Ostdeutschland

 

Dieser Text erschien am 30. Mai 2025 in redigierter Fassung im Feuilleton der Sächsischen Zeitung.

 

Wie Menschen reagieren Gesellschaften unter Druck sensibel auf Bemerkungen von aussen. Ich – ein Schweizer in Sachsen – bin mir dessen bewusst. Umgekehrt trifft zu, dass manches aus der Binnenperspektive nicht ausreichend in den Blick kommt. In seiner Dresdner Rede diskutierte der beliebte Soziologe Steffen Mau einmal mehr Transformation. Karl Polanyi, der zumindest dem Titel nach – «Die grosse Transformation» (1944) – das einschlägige Werk zum Thema verfasst hat, fehlt in den Debatten um Transformation in Ostdeutschland weitgehend. In «Lütten Klein» taucht er lediglich verschämt in einer Fussnote auf und im jüngsten Buch «Ungleich vereint» (2024) kommt Mau nicht mehr auf ihn zurück. Sicherlich lässt sich einwenden, dass Polanyis Buch bereits achtzig Jahre alt und seine Thesen in der Wissenschaft selbstredend umstritten sind.

Philipp Ther allerdings, der an seinem «Forschungszentrum für historische Transformationen» in Wien auch von aussen spricht, machte Karl Polanyi zum Ausgangspunkt seiner Essays «Das andere Ende der Geschichte» (2019) über Europa nach dem Kalten Krieg. In Anspielung auf den Titel betont er, dass «die ‹grosse Transformation› nach 1989 nicht nur den ehemaligen Ostblock, sondern auch den Westen veränderte.» Der Sachbuchpreisträger der Leipziger Buchmesse von 2015 griff in seiner Analyse auf «Polanyis Pendel» zurück, wonach Gesellschaften auf Verwerfungen, die der freie Markt hervorruft, mit einem kollektivistischen Schutzbedürfnis reagierten. Dieses kann sich kommunistisch oder faschistisch äußern. Letzteres ist – nach dem Dritten Reich und der stalinistischen Sowjetunion – zumindest wieder ein Thema. Die Tendenzen zur nationalistischen Schutzsuche nehmen gesamteuropäisch zu. In Ostdeutschland sind sie besonders spürbar.

Erwähnt Mau in seiner Rede beiläufig die «grosse Transformation» der industriellen Revolution, um diese mit der Energiewende zu vergleichen, ist mir, als hörte ich Polanyis Echo. Erst recht, wenn Mau dann von einer transformationsmüden Gesellschaft spricht. Auf der Suche nach den Ursachen der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts – Kommunismus und Faschismus – beschäftigte sich der österreichische Wirtschaftshistoriker mit dem frühkapitalistischen England und stiess auf die gesellschafts- und kulturzersetzende Kraft der freien Marktwirtschaft. Eine seiner zentralen Einsichten besteht darin, dass die Geschwindigkeit von Veränderungen häufig nicht weniger wichtig sei als ihre Richtung. Aber während wir die Richtung meist nicht beeinflussen könnten, liege die Gestaltung der Geschwindigkeit durchaus in unserer Hand.

Die ungebremste Dynamik, hob Polanyi hervor, führte zu einer nie dagewesenen Mobilisierung der Menschen. In Massen zogen Bauern, deren Gemeinschaftsland zugunsten intensiver Landwirtschaft für die Wollproduktion enteignet worden war, in die Städte, um in Fabriken ein Auskommen zu finden. Das unabhängige Nebeneinander einzelner Bauerndörfer, wich den komplexen Abhängigkeiten einer Industriegesellschaft. Zweifelsohne entfesselte diese Transformation eine ungekannte Produktivität, deren Wohlstandsverheissung verlockend geblieben ist.

Dass Polanyi in den prekarisierten Arbeiter:innen auf der Suche nach Arbeit eine neue «nomadische» Lebensweise entdeckte und ihnen in ihrer ärmlichen Vogelfreiheit einen «Mangel an Selbstachtung und Disziplin» zusprach, verwundert vielleicht nicht. Bemerkenswert ist, dass er diese Lebensweise am anderen Ende des gesellschaftlichen Spektrums genauso ausmachte. Auch dem «Kapitalisten» spricht er Selbstachtung und Diszplin ab, um ihn wie den prekarisierten Arbeiter als «roh» und «herzlos» zu beschreiben. Das Selbstverständnis stolzer Arbeiter:innen musste sich erst herausbilden, damit im 20. Jahrhundert mehr noch ein Arbeiter- als ein Bauernstaat denkbar wurde.

Beide Figuren, möchte ich meinen, sind aus der Nachwendezeit bekannt. Die einseitige Arbeitsmigration vom Osten in den Westen kam erst dreißig Jahre nach der Wende zum Erliegen. Umgekehrt etablierte sich in den neuen Bundesländern eine wirtschaftliche und politische Elite, die das Leben in den Grossstädten der Verwurzelung vor Ort vorzog. Nicht selten aus dem Westen kommend reist sie in die Provinz, um diese nach getaner Arbeit so rasch wie möglich zu verlassen. Das gilt erst recht für das Investionskapital, das meist keinerlei Bindung an Ostdeutschland hat. Fast sprichwörtlich sind die bedauernswerten «Wendeverlierer», die unter veränderten Bedingungen nicht mehr Fuss fassen konnten, auf der einen und die «windigen Geschäftemacher», die mit der Wende aus dem Westen herüberkamen, auf der anderen Seite geworden.

Die Abwicklung der sozialistischen Staatswirtschaft nach der Wende zugunsten einer freien Marktwirtschaft zerschlug ähnlich wie im England des 19. Jahrhunderts bestehende Sozialstrukturen. War die Gesellschaft der DDR wesentlich über die Betriebe organisiert, denen auch Vereine und andere Sozialinstitutionen angehörten, verschwanden diese Sozialstrukturen zusammen mit den Betrieben. Die Umwälzung betraf nicht allein die Wirtschaft, sondern griff viel tiefer in die Gesellschaft ein. Die folgliche Abwanderung führte über Jahrzehnte zu einem Bevölkerungsschwund und rief demografische Schieflagen hervor, wie Mau mit jedem kleinen Wende- oder Wiedervereinigungsjubiläum darlegt. Vielen alten Menschen stehen wenige junge gegenüber. Zu viele Männer treffen auf zu wenig Frauen.

Die kapitalistische Konzentration von Ressourcen hat Ostdeutschland mit der Wiedervereinigung weitgehend seiner zentralisierenden Anziehungskraft beraubt. Dresden und Leipzig rappeln sich mühsam auf. Einstige Boomtowns wie Cottubs versanken in der Bedeutungslosigkeit. Das sächsische Plattenwunder Hoyerswerda wird zurückgebaut. In der Wendezeit wurde die Gestaltung der Veränderungsgeschwindigkeit vernachlässigt. Dass mit fortwährender Veränderung diese Aufgabe jedoch weiterbesteht, bietet Handlungspielraum.

Das darf nicht zu falschen Versprechungen wie 2015 verleiten. Merkels beherztes «Wir schaffen das!» führte im Verlauf der letzten zehn Jahre zu einer markanten Zuspitzung der gesellschaftlichen Polarisierung. Vergessen geht in den emotionalisierten Debatten, dass Ostdeutschland auf Zuwanderung angewiesen ist. Und dabei kann es nicht nur um hochqualifizierte Arbeitskräfte für Silicon Saxony gehen, die mit dem nächsten Karriereschritt Dresden wieder verlassen. Der Wohlstand Europas bleibt ungeachtet aller Massnahmen ein Migrationsmagnet.

Die Herausforderung für die ostdeutsche Gesellschaft sind dann auch nicht Menschen, die kommen, sondern Menschen, die allzu rasch (wieder) gehen. Spielten nicht die Kinder einer Handvoll genügsamer Migrant:innen aus Syrien zwischen den verbliebenen Platten, würde es in Hoyerwerda bald gespenstisch still. Und manch ein junger Umvolkungstheoretiker in Sachsen-Anhalt heiratete in einem nüchternen Moment dereinst vielleicht doch lieber eine Afghanin als seine Dogge. Migration ist nicht aus einem Anflug humanistischer Naivität zu begrünssen, sondern aus Einsicht in die ostdeutsche Realität.

Was sich Anfang des 19. Jahrhunderts auf England beschränkte, betrifft heute längst die ganze Welt. Während Silicon Saxony mit dem weltpolitischen Ringen um Taiwan, dem Zentrum der globalen Chip-Produktion verflochten ist, nährt ein beträchtlicher Teil der sächsichen Bevölkerung aufgrund anhaltender Verlustängste Abschottungsbedürfnisse. Prallt die Mentalität der Hypermobilen, die jederzeit anderswo neu anfangen zu können meinen, auf die Mentalität der Immobilen, wären Vermittlungsleistungen gefragt statt der leeren Versprechungen von Politmigranten, die mit ihren Ansichten in den Osten zogen, weil sie im Westen erfolglos waren. Migration gleichzeitig zu moderieren und sie entschieden zu bejahen, ist die politische Kunst. Sachsen, das als einziges Bundesland im Osten dank seiner erstarkenden Großstädte über das nötige Selbstbewusstsein verfügte, hätte eine Vorreiterrolle bei der Transformation der ostdeutschen Verlusterfahrungen zu spielen. Die Ausmaße dieser Verlusterfahrungen, alle paar Jahrzehnte in einem neuen Staatsgebilde zu leben, wird erst aus der Perspektive einer vergleichsweise bruchlosen Entwicklung wie in der Schweiz deutlich. Gelingt die Vermittlung zwischen den Mobilen und den Immobilen allerdings nicht, verheisst Polanyis Pendel wenig Gutes.

Wochenkrippen in der DDR: Eine Geschichte von Frauen und Kindern

 

Dieser Text ist gekürzt um den letzten Absatz am 14.12.2024 in der FAZ erschienen.

 

Unerreichbar schaut das Fenster auf das Kind herab. Unerreichbar bleibt die Welt für das Kind. Immer unerreichbarer werden dem Kind im kahlen Raum die Eltern, bis es sie womöglich vergisst. Auf dem Boden liegt ein Teddybär so verlassen, wie das Kind unter dem Fenster steht.

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Das Lügenmuseum: Eine echt ostdeutsche Institution mit internationaler Strahlkraft

 

Dieser Text ist in leicht gekürzter Fassung am 05.10.2024 in der FAZ erschienen. Dabei ist dem Redigat ein marginaler, aber folgenschwerer Fehler bei den grammatischen Zeiten unterlaufen. Diesen Satz («Zwölf Jahre später allerdings flattert die Kündigung ins Haus.») setzte das Redigat aufgrund des Präteritums im vorangegangen Abschnitt fälschlicherweise in die Vergangenheit. Selbstverständlich wiegten sich Zabkas vor der Kündigung in Sicherheit, nicht nach der Kündigung. Sicherheit und Kündigung treffen also nur in einem kurzen Moment aufeinander. Seither herrscht im Lügenmuseum die grösste Unsicherheit.

 

Ab jetzt wird nicht mehr gelogen! Was in den meisten Fällen begrüssenswert wäre, ist im Fall Radebeul nicht nur bedauerlich, sondern wahrscheinlich auch – gelogen. Tatsache ist: Seit dem 1. September ist das Lügenmuseum im denkmalgeschützten Radebeuler Gasthof Serkowitz, das Reinhard Zabka als «Wahres Deutsch-Historisches Lügenmuseum» 1990 im Dorf Babe in Brandenburg gründete, für Besucher geschlossen.

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