fünfzeiler
Die einfachste Variante, die fünfzeiler zu begreifen, ist, sie als Abwandlung der längst auch in Europa populären Form des japanischen Haikus aufzufassen. Der Haiku besteht in seiner Übetragung in die deutsche Sprache aus siebzehn Silben und drei Zeilen, wobei die mittlere Zeile mit sieben Silben von zwei kürzeren Zeilen mit je fünf Silben gerahmt ist. Der fünfzeiler bildet dazu eine Art Gegenstück, indem er mit der gleichen Anzahl Silben eine gegenläufige Figur darstellt, in deren Zentrum nicht die lange Zeile steht, sondern das einsilbige Wort hervorgehoben ist.
Erprobt habe ich die Form der fünfzeiler erstmals 2012/2013 während des Schreibens an meiner Lizentiatsarbeit über Hölderlin sowie Spekulationen zu Metrik und Sprachursprung: Das doppelte continuum der Sprache: Dargestellt im Gedicht. Als Motto habe ich der Arbeit ein eigenes Gedicht (auch erschienen in delirium N°01) vorangestellt, das formal als Prototyp der fünfzeiler gelten kann, auch wenn es im Tonfall noch pathetischer auftritt:
Den Dichtern
Stell dich! ins Licht einer Sonne,
In den Sog ihrer Hitze –
Verbrannt fast
Nichts
Was bleibt –
Verleiht dem Vers
Des langen Atems Kraft.
(Fabian Schwitter, delirium N°01, S. 12)
Überlegungen zur Metrik und zur Prosodie der deutschen Sprache haben mich letztlich zur stringenten Möglichkeit eines Verses, der aus nur einer Silbe besteht, geführt. Der Vers in der deutschen Sprache (ebenso wie in anderen Sprachen mit Stammsilbenbetonung) schien mir auf diese eine Silbe zuzulaufen – und konsequenterweise musste er sich dann auch aus ihr heraus entwickeln. So kristallisierte sich – wortwörtlich – im Verlauf der Arbeit, wie es das angeführte Gedicht Den Dichtern» exemplarisch vorzeigt, eine Gedichtform heraus, die sich um ein Zentrum herum gruppiert.
Bereits in dieser Beschäftigung deutete sich methodisch eine „Poetik der Analyse“ an, wie Sandro Zanetti sie in Bezug auf meine Arbeitsweise in der späteren Dissertation ausmachte und im Gutachten festhielt. Nicht nur greift meine Arbeitsweise methodisch eigenwillig auf die Gegenstände zu, sodass die Methode in Verbindung mit ihrer Darstellung als poetisch gelten darf, sondern aus der Analyse selbst heraus ergaben sich immer wieder poetische Ansatzpunkte für mein dichterisches Arbeiten.
Hatte ich ursprünglich meine Überlegungen an Hölderlins Rheinhymne festgemacht, schienen sie mir auf Celan hin zu gravitieren. In einem zweiten Anlauf, mich mit der Thematik zu beschäftigen, stellte ich fest, dass bei Celan dasjenige Phänomen tatsächlich auftritt, das ich in abstrakter Form anhand von Hölderlins Rheinhymne zu beschreiben vermochte. Gedichte, die auf ein einzelnes Wort – gar eine einzelne Silbe – zulaufen. Während den Vorbereitungen meiner Abschlussprüfungen in Germanistik fand ich dann in Celans Atemwende ein exemplarisches Gedicht für meine Thematik:
MIT DEN VERFOLGTEN in spätem, un-
verschwiegenem,
stralendem
Bund.
Das Morgen-Lot, übergoldet,
heftet sich dir an die mit-
schwörende, mit-
schürfende, mit-
schreibende
Ferse.
(Paul Celan, Die Gedichte, 2005, S. 179)
Beinahe paradigmatisch läuft Celans Gedicht auf zwei poetologisch fruchtbare Worte zu: „Bund“ und „Ferse“. Nicht nur stellt das Gedicht als Textform insgesamt in besonderem Mass einen Bund dar, sondern es besteht auch aus Worten und Versen, die überhaupt erst den genannten Bund eingehen (im Gegensatz zur Kette der Prosa vielleicht). Gedichte bilden als Ganzes einen Verbund aus deutlich sichtbar voneinander abgehobenen Teilen. Sie bilden gewissermassen einen Versbund.
Sowohl das Wechselspiel von Kontraktion und Relaxation bei den fünfzeilern, als auch die Verbindung zu Celans Gedicht, das im Band Atemwende erschienen ist, verlangen aber vor allem nach der Motivik des Atems. Die prägnante Wortschöpfung, die Herta Müllers Roman Atemschaukel über und mit Oskar Pastior den Namen geben sollte, schien mir deutlich in der Form und Bewegung der fünfzeiler abgebildet.
atme und atme
ich nur so
wie
die eine
schaukel am haken
(Fabian Schwitter: nicht ganz hundert / fünfzeiler, 2019, S. 19)
Einen Nukleus dar Atemthematik stellt diese Zeile – atme ich atme – dar, welche die Kippfigur der fünfzeiler insgesamt bereits in sich trägt: atme ich – ich atme. Ich habe diese Zeile in Anlehnung an eine Sentenz des Zen-Meisters Shunryu Suzuki gebildet:
„Was wir Ich nennen, ist nur eine Schwingtür, die sich bewegt, wenn wir einatmen und ausatmen.“
(Shunryu Suzuki: Zen-Geist Anfänger-Geist, 1975, S. 31)
Denkaber wäre die allmähliche Erweiterung dieses Nukleus auf die fünf Zeilen der fünfzeiler. Zunächst gruppierte sich das Atmen um ein leeres Zentrum, wie es im Gedicht „Den Dichtern“ mit dem „Nichts“ genannt ist, oder in Suzukis Worten um eine „Schwingtür“:
atme
ich
atme
In der Erweiterung auf fünf Zeilen bildeten sich eine Reihe von Symmetrien sowohl über das Gedicht im Ganzen als auch innerhalb der Zeilen bzw. der Zeilen zueinander ab:
atme ich atme
ich atme
ich
atme ich
atme ich atme
Die Frage drängt sich mir dann auf, inwiefern die subtilen Verwerfungen, die sich trotz einer grundsätzlich symmetrischen Anordnung ergeben, gerade den Störfaktor des Ichs hervortreten lassen. Die meisten Ichs sind (noch) keine Schwingtüren im Fluss des Atems – allenfalls das Ich eines Zen-Meisters.
Hat die Arbeit an den fünfzeilern vor rund zehn Jahren – nämlich im Herstsemester 2010 im Seminar „Was ist Poesie?“ von Charles de Roche an der Universität Zürich – begonnen, so schliesst sich mit dem Verweis auf Suzuki ein Kreis. Zwar fiel mir die eingangs erwähnte Verbindung zum Haiku erst nachträglich auf, doch bot sich mir schon früh das Wort ‚Zen‘ als einsilbiges Zentrum der fünfzeiler an. Es passte nicht nur aufgrund seiner sprachlichen Form, sondern es symbolisierte auch die Klarheit und Schlichtheit der äusserst reduzierten Gedichtform, die mich faszinierte. Unbemerkt war die Nähe zum Haiku hergestellt. Im Frühling 2016, und die Form war damals noch nicht so streng, schrieb ich am Übergang vom angeführten Prototypen «Den Dichtern» zu den fünfzeilern des Bands nicht ganz hundert / fünfzeiler ein Zen-Gedicht:
Ich suche die Kreise
im Garten des
Zen
wo Wartendes
still und leise: meine Meise
(Fabian Schwitter, unveröffentlicht)
Wenig später wollte ich mir wenigstens rudimentäre Kenntnisse der Geschichte des Zen aneignen, sodass ich Heinrich Dumoulins Geschichte und Gestalt des Zen von 1959 las. Darin fand ich einen denkwürdigen Satz, der meine Auseinandersetzung mit der Form in aller Kürze zusammenfasste und der später auf dem Einband des ersten fünfzeiler Buchs – nicht ganz hundert / fünfzeiler – stehen sollte:
„Leben bedarf der Form und schafft sich die ihm gemässe, wenn es echt ist.“
(Heinrich Dumoulin: Geschichte und Gestalt des Zen, 1959, S. 107)
Es ist dieser anklingende Begriff der Lebensform, der mich umtrieb, obwohl ich kaum sagen konnte, warum genau diese Form. Sagen konnte ich lediglich, dass ich eine distinkte Form suchte.
Trotz seiner Reduziertheit birgt der fünfzeiler viel Darstellungspotenzial. Nicht nur betont er, wie seine Entstehungsgeschichte nahelegt, das Wort in der Mitte, um das sich der fünfzeiler in vielen Fällen thematisch gruppieren kann. Sondern er skizziert auf abstrakte Weise auch geometrische Formen, was das Zen-Gedicht illustriert. Konzentrische Kreise oder eine Spirale, die sich in den Raum hinaus dehnt, ruft er ebenso ab wie die Vorstellung eines Gleichgewichts mit dem Mittelwort als Symmetriepunkt.
Gleichzeitig ermöglicht seine Reduziertheit leicht eine Aggregation einzelner fünfzeiler zu einer komplexeren Struktur. Auf kleinstem Raum bietet der fünfzeiler meines Erachtens viel Darstellungsflexibilität. Diese Überlegungen führen zumindeset in die Nähe einer Antwort auf die Frage, wozu gerade der fünfzeiler heute gut sein soll. Lange fand ich keine Worte, das auszudrücken. Stattdessen geisterte mir die Frage, die mir Julius Schmidt (damals ein Student im Seminar, das ich zu Kants ästhetischem Urteil zusammen mit Charles de Roche geleitet hatte) diesbezüglich gestellt hatte, als Verlegenheit durch den Kopf. Ich wusste schlicht keine befriedigende Antwort auf seine Frage.
Mittlerweile nimmt eine Antwort auf das Spezifische der fünfzeiler Konturen, wie ich sie beschrieben habe, an. Darüber hinaus erweist sich gerade das Potenzial zur Aggregation, das der fünfzeiler sicherlich mit anderen distinkten Formen teilt, als zeitgemäss. Dieses Aggregationspotenzial ermöglicht ein Arbeiten, das auf Kontinuität baut. Eine Kontinuität, die verwandt ist mit dem Care-Begriff, der zusehends an Bedeutung gewinnt. Der Care-Begriff legt das Augenmerk auf die alltäglichen und scheinbar ziellosen Notwendigkeiten. Die Kunst besteht dann vielleicht auch darin, den fünfzeiler noch im täglichen Gang aufs Klo zu erblicken.
Die an den Care-Begriff angelehnte Kontinuität bedeutet die Pflege des Bestehenden – also die Pflege der Form. Diese Pflege kann einhergehen mit einem Gedeihen, das nicht nur konserviert, sondern auch wachsen lässt. Die Elementarform des fünfzeilers, die als Samen erscheint, hat Bestand. Sie braucht (im Gegensatz zum freien Vers, der gezwungen ist mal für mal das Rad neu zu erfinden) nicht immer wieder neu erfunden zu werden. Die Aggregationen jedoch eröffnen den Spielraum für immer Anderes.
Mit der Orientierung an einem organischen Modell möchte ich aber gerade nicht der romantischen Vorstellung eines in sich geschlossenen und organisierten Kunstwerks Vorschub leisten. Vielmehr möchte ich eine Gleichzeitigkeit von Bestand und Wachstum zu denken versuchen. Die Lebensform bleibt erhalten, weil bestimmte Tätigkeiten Tag für Tag erledigt werden wollen. Diese Tätigkeiten sollten im besten Fall so beschaffen sein, dass ich sie auch Tag für Tag erledigen kann, ohne mich dabei zu erschöpfen. Das erfordert ein Wechselspiel zwischen machbaren Tätigkeiten, die mich weder über- noch unterfordern, und der Selbstdisziplin, mich auf diese Tätigkeiten einzulassen und ihre Notwendigkeit zu anerkennen. So kann sich die Lebensform in der Aggregation dieser Wiederholungen über die Zeit entwickeln und eine Komplexität jenseits der zugrundeliegenden Elementarform erreichen, indem die fünfzeiler etwa ausgreifen und andere Kunstformen miteinbeziehen. Oder zugespitzt auf eine Frage: Unter welchen Bedingungen kann ich mich ein Leben lang mit fünfzeilern begnügen?