Wochenkrippen in der DDR: Eine Geschichte von Frauen und Kindern
Dieser Text ist gekürzt um den letzten Absatz am 14.12.2024 in der FAZ erschienen.
Unerreichbar schaut das Fenster auf das Kind herab. Unerreichbar bleibt die Welt für das Kind. Immer unerreichbarer werden dem Kind im kahlen Raum die Eltern, bis es sie womöglich vergisst. Auf dem Boden liegt ein Teddybär so verlassen, wie das Kind unter dem Fenster steht.
Mehrfach taucht das Motiv des Fensters in der Ausstellung «ferne nähe – Reflexionen ehemaliger Wochenkinder» im Dresdner Kunsthaus Raskolnikow auf und verleiht der beklemmenden Realität der Wochenkinder Ausdruck. In den Wochenkrippen der DDR blieben hunderttausende Kinder unter der Woche Tag und Nacht fremdbetreut. Bereits sechs Wochen nach der Geburt kamen manche in Einrichtungen.
Was in der DDR und anderen sozialistischen Ländern zum Massenphänomen wurde, war jedoch weder auf den Warschauer Pakt beschränkt noch eigneten sich alle osteuropäischen Länder das sowjetische Modell an, betont Heike Liebsch in ihrer Dissertation «Wochenkinder in der DDR» (2023). Auch in der BRD wurden Kinder, etwa wenn Mütter alleinerziehend waren, fremdplatziert, obwohl das in vielen Fällen nicht nötig gewesen wären. In Ungarn und Bulgarien wiederum setzte sich die Wochenbetreuung trotz sozialistischer Staatsführungen nicht durch. In der DDR allerdings fanden Wochenkrippen weite Verbreitung und besonders rigide Ausgestaltung.
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg bestand wegen der vielen zerrütteten Familien ein hoher Bedarf an umfassender Unterbringung für Kinder. Nahmen Unterbringungsformen wie die Wochenkrippen in der DDR bis Mitte der Sechzigerjahre aus ökonomischen und ideologischen Überlegungen zu, besuchten am Ende der DDR noch gut ein Prozent der fremdbetreuten Kinder eine Wochenkrippe. Nicht zuletzt der Auswirkungen dieser Wochenkrippen wegen jedoch ist das Krippenwesen der DDR in jüngster Zeit Gegenstand einer öffentlichen Aufarbeitung über Fachkreise hinaus geworden.
Einerseits verschaffen sich Betroffene seit einiger Zeit – durch das oft schambehaftete Schweigen in den Familien hindurch – mit künstlerischen Werken etwa in Ausstellungen in Rostock und Dresden Gehör. Seit letztem Sommer organisieren sich Betroffene überdies im Wochenkinder e. V., der Selbsthilfeinitiativen bündelt, die Aufarbeitung der Krippengeschichte vorantreibt und Veranstaltungen organisiert.
Andererseits sorgt die wissenschaftliche Aufarbeitung für Kontroversen, die selbst vor der Bundeszentrale für Politische Bildung und dem Aufrechnen von Kindheitstraumata in Ost und West nicht Halt machen. Bücher wie «Die beschädigte Kindheit» (2022) des Erfurter Erziehungswissenschaftlers Florian von Rosenberg, der auch Liebschs Dissertation betreute, wiederum richten sich an ein breites Publikum. Immer deutlicher werden die gesellschaftlichen Umstände, unter denen Wochenkrippen im Namen des Staats in den ersten Jahrzehnten der DDR um sich griffen.
Rasch erfolgt die Übergabe am Eingang der Krippe. Den Eltern bleibt der Zutritt verwehrt. Das Kind ist auf sich allein gestellt.
Dem neuen Staat fehlen – kriegs- und fluchtbedingt – ständig Hände und Köpfe. Die DDR hinkt im ökonomischen Wettlauf mit der BRD, die durch den Marshall-Plan bald grosszügig unterstützt wird, von Anfang an hinterher. Die UdSSR hat mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war. Männer wie Frauen sollen sich nun tatkräftig am Aufbau des Sozialismus beteiligen oder im Dienst des Staats studieren. Und dann gilt dem Sozialismus die Frau dank entlöhnter Arbeit als emanzipiert, sodass der Ausbau des Krippenwesens nach sowjetischem Vorbild beharrlich vorangetrieben wird.
Vielleicht liegt das Kind in einem Bettchen, starrt an die Decke. Vielleicht ist es nachts mit Lederriemen fixiert, um nicht aus dem Bett zu fallen. Eine Pflegerin kümmert sich allein um dreissig Kinder.
Zu Beginn prägt ein klinisches Paradigma das Krippenwesen der DDR. Insbesondere in den entbehrungsreichen Jahren nach dem Krieg steht die körperliche Versorgung im Vordergrund. Die industrielle Rationalisierung greift auf den Umgang mit Kindern über. Wie sonst soll Fremdbetreuung mehr Arbeitskräfte freisetzen als sie bindet? Zudem liebäugelt die Staatsführung unter Bezugnahme auf Pawlows Reflexforschungen mit der Heranzüchtung kontrollierbarer Sozialist:innen und der theoretisch vorausgesagten Auflösung der Kleinfamilie in der sozialistischen Gemeinschaft.
Aber das Kind. Es wirkt kränklich, spricht kaum. Die Eltern nehmen es am Wochenende verstört in Empfang. Die Kinderärztin stellt fest, wie unbeholfen sie mit dem Kind umgehen.
Bereits in der DDR äussern Kinderärzt:innen und Wissenschaftler:innen Kritik. Insbesondere die Wochenkrippen halten nicht, was sie versprechen. Bemüht sich der Staat, die skeptische Bevölkerung mit den Argumenten zu überzeugen, dass geschultes Personal die Kinder besser als Eltern zu versorgen in der Lage sei und die wissenschaftliche Begleitung ständigen Fortschritt sichere, strafen die Wochenkrippen alle Versprechungen Lügen. Die Kinder hinken in ihrer Entwicklung hinterher. Sie sind häufig krank. Das Phänomen des Hospitalismus geistert durch die Wochenkrippen. Trotz aller Erkenntnisse hält der Staat an seinem Programm fest.
Teilnahmslos sitzt das Kind auf dem Boden. Spielsachen sind spärlich. Karg ist der Alltag des Kinds. Vielleicht schüttelt das Kind unablässig den Kopf.
Der forcierte Ausbau des Krippenwesens führt überall zu Engpässen. Es mangelt an – gut ausgebildetem – Personal. Die Gebäude sind dürftig. Die Fluktuation beim Personal ist hoch. Die Arbeit ist nervenzehrend und schlecht bezahlt. Rosenberg führt eine Studie des DDR-Krippenforschers Karl Zwiener aus den Siebzigern an, wonach «die Kleinsten der Krippe nur knappe 20 Minuten am Tag individuelle, direkte Zuwendung erfahren.» Gleichzeitig folgen immer mehr Frauen dem Aufruf zur Arbeit und lassen ihre Kinder fremdbetreuen. Noch 1989 wird der Staat rund 30’000 Anträgen auf einen Krippenplatz nicht entsprechen können.
Das Kind fügt sich einem fremden Rhythmus. Vorgegeben sind die Esszeiten, die Töpfchenzeiten, die Schlafzeiten. Vielleicht wird das Kind apathisch. Oder aggressiv.
Erst ein Umdenken in anderen Ostblockstaaten und – ironischerweise – ökonomische Überlegungen bewegen die DDR-Führung dazu, Wochenkrippen zu reduzieren. Um mehr und mehr Frauen in den Arbeitsprozess einzubeziehen, müssen die Wochenkrippen mit ihrem hohen Personalaufwand und dem zusätzlichen Raumbedarf für Schlafsäle den effizienteren Tageskrippen weichen. Ein pädagogisches Paradigma, das auch die Bindung von Kindern zu Bezugspersonen berücksichtigt, ersetzt allmählich das klinische. Eingewöhnungszeiten für die Kinder gehören bald zum Vorgehen. Zudem bleiben die Jüngsten dank zunehmend grosszügigeren Mutterschaftsurlaubs zu Hause.
Nicht zuletzt der spezifischen Situation Deutschlands wegen fällt das Krippensystem in der DDR besonders rigide aus. Im Wetteifer mit dem je anderen Landesteil ist Unnachgiebigkeit oft das Mittel der Wahl. Zwiener stellte bereits 1994 im fünften Band der «Materialien zum 5. Familienbericht» des Deutschen Jugendinstituts nüchtern fest, dass durch die «permanente politische Konfrontation der Systeme die institutionalisierte Betreuung der Kinder in der Bundesrepublik entscheidend gebremst und in der DDR bewusst gefördert wurde.» Die Unterschiede waren entsprechend enorm: «In den alten Bundesländern besuchten bis 1989 ca. 2% der Kinder unter drei Jahren Kinderkrippen, in der DDR ca. 60%.»
Mittlerweile gehören Kinderkrippen – nicht zuletzt dank der Erfahrungen aus der DDR – in ganz Deutschland zum Alltag. Und bisweilen kommen auch wieder Ideen für 24-Stunden-Kitas auf. Ob es angesichts dessen angezeigt ist, auf die Erkenntnisse der Bindungstheorie zu pochen? Bestimmt. Kinder – wie alle Menschen – brauchen verlässliche Bezugspersonen. Aber ob dies zwangsläufig und jederzeit die Mütter sein müssen?
Rosenbergs unkommentierte Überhöhung der Mutter-Kind-Bindung früherer Jahrzehnte unterschlägt, dass die Argumentationen hüben wie drüben darauf hinausliefen, die Väter aus der Verantwortung für Hausarbeit und Kinderfürsorge zu entlassen. Dass die sozialistische Führung der DDR die „heilige Kuh der Frauenarbeit“, wie Rosenberg sich ausdrückt, zuungunsten der Kinder vor sich hertrieb, ist richtig. Dass auf der anderen Seite der Mauer die behütete Kindheit auf Kosten vieler Hausfrauen erkauft wurde, leider auch. Die fehlende Kontextualisierung droht einmal mehr, die Interessen von Frauen und Kindern gegeneinander auszuspielen.
Wenn ein Erziehungswissenschaftler aus dem Westen, der ein breites Publikum ansprechen will, dann auch noch auf das Gendern verzichtet, wo das sozialistische Experiment einzig dadurch gerechtfertigt ist, dass es nicht nur um Kinderärzte, sondern auch um Kinderärztinnen ging, ist das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Der Weg zu einer Verständigung zwischen Ost und West ist bei aller löblichen Akribie in der Archivarbeit und bei aller berechtigten Empörung über eine ignorante Staatsführung offenbar noch genauso weit wie der Weg zu einer Verständigung über die Bedürfnisse aller Menschen in einer Familie.